Die Temperaturanzeige meiner Sportuhr zeigt acht Grad. Gefühlt ist es aber viel kälter, bestimmt um den Gefrierpunkt. Ohne Handschuhe kann ich die Kamera kaum halten. Ein eiskalter Wind bläst über den Bergrücken. Gestern hatten wir Turin passiert – 35 Grad waren es dort. Es ist Ende August, also Spätsommer. Im ersten Licht stehe ich auf dem Gipfel des Monte Jafferau und bibbere in der kristallklaren Bergluft. Doch der Blick auf die orange-goldenen Kämme der Westalpen macht die Kälte erträglich.
Am Vorabend hatten wir in der Dämmerung Exilles erreicht. Ein historischer Ort im Val di Susa und der Startpunkt der legendären Militärstraße zum Jafferau. Herzstück der Auffahrt: Ein 900 Meter langer Tunnel, den die Bergleute einst in die Flanke des Monte Seguret frästen. Galleria dei Saraceni heißt der unbeleuchtete, einspurige Tunnel. „Alles, nur bitte kein Gegenverkehr“, murmle ich in mich hinein. Denn im Tunnel gibt es keine Ausweichmöglichkeit – nur Finsternis und große Wasserbecken.
Das Susatal ist das Tor in die Westalpen. Es ist bekannt für einen vergleichsweise liberalen Umgang mit Geländefahrzeugen. Mountainbike, Reiseenduro oder 4x4 – das Susatal ist eines der letzten Refugien für Offroad-Enthusiasten in den Alpen. Zahlreiche Bergstraßen dürfen hier noch legal befahren werden. Die Region lockt Abenteurerhungrige aus ganz Europa. Trotz des Offroad-Tourismus geht es im Susatal beschaulich zu. Overtourism – Fehlanzeige.
Hier stehen wir also: hoch über dem Susatal auf 2.800 Metern Höhe. Die Sonne hebt sich über die Gipfel und taucht die Bergwelt hinter uns in ein Feuerrot. Ein paar Meter weiter haben Motorradfahrer ihre Zelte windgeschützt in den Ruinen einer verfallenen Militärstellung aufgeschlagen. Auch sie sind mittlerweile aus ihren Schlafsäcken gekrochen und bestaunen den Sonnenaufgang mit einer dampfenden Tasse Kaffee.
Militärbauten gibt es hier auf fast jedem Berg. Der eindrucksvollste von allen steht auf über 3.000 Meter auf dem Gipfel des Monte Chaberton. Acht gigantische Geschütztürme ragen auf der Spitze des Berges in die Höhe und verleihen dem Gipfel den Anschein einer Königskrone. Sein Spitzname: König der Cottischen Alpen. Von unserem Dachzelt aus wirkt der Chaberton zum Greifen nahe, obwohl er Luftlinie zehn Kilometer entfernt ist. „Da will ich die nächsten Tage rauf – mit dem Bike,“ schwärme ich vor mich hin. Als Mountainbike-Tour gehört der Monte Chaberton zu den Seven Summits der Alpen. Ein Muss für versierte Trail-Biker, die einen beschwerlichen Aufstieg zugunsten einer gigantischen Abfahrt jederzeit in Kauf nehmen.
Mit mir unterwegs ist Jens: ein erfahrener Offroader, der ein Jahr in seinem alten Defender lebte und Afrika bereist hat. Mit seinen 37-Jahren hat er viel gesehen – nur in den Westalpen war er noch nie. Eigentlich ist Jens kein Bergmensch: Er liebt Wasser, Wellen, Meer – Sonnenaufgänge genießt er am liebsten am Strand. Doch der Blick vom 2.800 Meter hohen Monte Jafferau geht auch ihm unter die Haut. Das weiche Morgenlicht legt sich wie ein Seidentuch über unser Lager, dahinter die schroffe, karge Bergwelt der Hautes-Alpes. Warme Farben, kalte Luft, harte Kontraste – ein Rausch für die Sinne. Und das ist erst der Anfang.
Während wir das Dachzelt einklappen, entwickelt sich ein reges Treiben am Gipfel. Im Minutentakt brettern Motorradfahrer auf Reiseenduros die steile Schotterpiste zum Jafferau hoch. Geländewagen gondeln langsam aber stetig die ausgefahrenen Versorgungswege hinauf. Für uns der richtige Zeitpunkt aufzubrechen.
Wir rollen nach Bardonecchia, ein verschlafenes Städtchen kurz vor dem Fréjus-Tunnel Richtung Frankreich. Bardonecchia ist Treffpunkt für Outdoor-Menschen: Bikepacker logieren hier, bevor sie über den Colle della Scala/Col de l’Échelle ins Vallée de la Clarée nach Névache ziehen, Fernwandernde auf dem GR5 füllen Proviant nach, Mountainbiker:innen genießen Singletrails und einen Bikepark für Tiefenmeter.
Und dann sind da die Offroader. Vor den Cafés reiht sich eine Ténéré an die nächste. Alte Land Cruiser und Defender stehen Stoßstange an Stoßstange. Wir mit unserem modernen Pickup sind eher Exoten – und fühlen uns trotzdem sofort zuhause.
Von hier startet eine der berühmtesten Offroad-Routen der Westalpen: der lange Anstieg zum Colle del Sommeiller – einer der höchsten legal mit Motorfahrzeugen erreichbaren Punkte der Alpen. An Samstagen wie heute wirkt die Piste zeitweise so belebt wie eine Bundesstraße im bayerischen Voralpenland an einem schönen Sommertag. (Kleine Übertreibung)
Wir schalten die Untersetzung zu und genießen die Entschleunigung im Kriechgang. Slow-Driving ist wie Slow-Food: Es wird nicht besser, wenn es schneller geht. Eigentlich stehe ich auf Geschwindigkeit. Meine Wurzeln liegen im Downhill und Enduro – auf dem Mountainbike. Speed und Adrenalin treiben mich seit Jahren an. Doch jetzt genieße ich die Langsamkeit. Keine Hektik – kein Stress. In Schrittgeschwindigkeit schleichen wir Serpentine um Serpentine nach oben. Die Langsamkeit öffnet Raum und Zeit. Mit Gelassenheit bestaunen wir die eindrucksvolle Bergwelt.
Wann immer es geht, verlassen wir die Hauptroute. Im letzten Drittel der Auffahrt sparen wir uns die Brücke und nehmen die Furt. Das Wasser spritzt. Die Steine rumpeln. Der Wagen schaukelt. Das Kind in mir macht Purzelbäume. Je höher wir aufsteigen, desto weiter entfernt liegt mein Alltag. Das Wanken des Pickups scheint meinen Stress geradezu abzuschütteln. Schon verrückt – einerseits sind wir an Fahrzeug und Wege gebunden, anderseits habe ich mich seit Langem nicht mehr so frei gefühlt.
Eigentlich möchte ich gar nicht ankommen. Ich wünsche mir, die Auffahrt zum Sommeiller würde nie enden. Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Da oben wartet niemand. Kein Termin. Keine Verpflichtung. Jens tritt auf die Bremse. „Wir bleiben hier.“ „Hier?“, frage ich. Jens blickt zum Horizont und antwortet: „Da hinten geht in zwei Stunden die Sonne unter. Lass uns kochen und zusehen, wie sich der Himmel verfärbt.“
Warum nicht. Wir sind nicht die einzigen, die nicht ankommen wollen. Im Abstand von ein paar hundert Metern stehen vier Autos in den Wiesen, Stühle draußen, Decken um die Schultern. Vor uns brutzeln Burger-Patties auf der Grillplatte. Bis auf den Gaskocher herrscht Stille hier oben.
Ok, ich gebe es zu: Allradantrieb, Untersetzung und Diffsperre haben mich tief in ihren Bann gezogen. Es ist die Ruhe, die ich mit dieser entschleunigten Art des Reisens verbinde. Aber wie steht es um meine eigentliche Leidenschaft? Zwei Räder, Lenker und Pedalen zum Selbertreten? Ziel war schließlich die legendäre Tour zum Monte Chaberton und seinen acht Geschütztürmen.
Wenn du die Offroad-Routen im Val di Susa selbst erkunden willst, geh als Erstes zur Touristeninformation in Sestriere (Ufficio del Turismo). Klingt nicht kultig – lohnt sich aber. Dort bekommst du Infos aus erster Hand und in der Regel eine kostenlose Karte („Roadmap“) mit markierten Zeitfenstern, heiklen Abzweigen und aktuellen Sperrungen. Das kurze Gespräch am Tresen spart dir später Stress am Berg.
Noch wichtig – kurz und ehrlich:
Zeitfenster & Sperrungen respektieren. Die Carabinieri kontrollieren auch oben am Berg, und die Strafen tun weh.
Aktuellen Stand erfragen. Nach Gewittern können Furten, Tunnels und Schotterrampen kurzfristig dicht sein.
Licht & Karte einpacken. Für dunkle Passagen (z. B. lange, unbeleuchtete Tunnel) eine starke Lampe mitnehmen – und eine Papierkarte für den Fall, dass das Handy ausfällt.
Leise, freundlich, sauber. Grüßen, langsam fahren, Müll wieder mitnehmen – so bleibt der Zugang für alle erhalten.
Von Fenils windet sich eine alte Militärstraße den Berg hinauf. Einst galt sie als eine der höchsten legal befahrbaren Routen der Alpen. Heute ist die Strecke für Motorfahrzeuge gesperrt. Und das verstehe ich, während ich hochkurble: An vielen Stellen ist von der alten Fahrspur nichts mehr übrig – nur ein fahrradreifenbreiter Pfad. Erosion und Starkregen haben ganze Arbeit geleistet. In zwei Jahrzehnten hat sich die Natur ihren Raum zurückgeholt. Für Mountainbiker wird die Route dadurch spannender – und ehrlicher.
Ein neuralgischer Punkt ist der „gespaltene Fels“. Das italienische Militär sprengte die Straße damals in die Felswand. An einer Stelle blieb bis heute ein schmaler Felssporn wie ein Messer stehen. Direkt davor ist der Weg abgebrochen. Ein Fixseil dient als Handlauf. Ich wage die Passage. Der Lenker schabt haarscharf am Fels, der Blick klebt auf dem schmalen Pfad. Nicht einfädeln. Bloß nicht. Schrittgeschwindigkeit. Zwei kräftige Tritte, dann mit Schwung – drüben. Der Puls hämmert, ich bin hellwach.
Nach knapp 400 Höhenmetern erreichen wir den Sattel des Col du Chaberton. Bis hier konnte man einst mit Auto und Motorrad fahren. Von hier aus geht es steil nach oben. Die Überreste des Kriegs sind unübersehbar. Der schmale Weg wird von mehreren Reihen Stacheldraht flankiert. Stellenweise spitzeln Geschützstellungen aus der Bergflanke hervor. Eines ist klar: Die acht gigantischen Geschütztürme wurden aufs Ärgste verteidigt.
Klar – die Stellung auf über 3.000 Metern Höhe bot den Italienern eine überlegene Position, um Angriffe der Franzosen abzuwehren. Gebracht hat es letztlich nichts: Mit dem Fall des Deutschen Reichs wurde auch Hitlers Verbündeter Mussolini gestürzt. Italien musste Land an die Siegermächte abtreten, und so steht der Chaberton heute auf französischem Territorium.
Nach insgesamt 1.922 Höhenmetern Aufstieg erreichen wir den Gipfel. Ein Gipfel, der Naturromantikern Tränen in die Augen treiben dürfte. Für die Festung sprengen die Pioniere die Spitze plan. Oben liegt eine topfebene, teils betonierte Fläche mit der Größe eines Fußballplatzes. Krieg bringt nur Zerstörung mit sich – auf vielerlei Art. Beeindruckend ist der Chaberton trotzdem – vielleicht gerade, weil dieser Ort wie eine Zeitkapsel wirkt.
Dann der Blick. Ich drehe mich langsam im Kreis, Kamera am Gurt, Hände am Lenker:
Mont Blanc im Norden, weit und klar – Krone der Alpen.
Barre des Écrins und La Meije im Westen, gezackte Sägen über dem Dauphiné.
Gran Paradiso im Nordosten, ein eigener Block, stolz und frei stehend.
Rocciamelone fast gegenüber, der Wallfahrtsgipfel des Tals.
Monviso im Süden–Südosten, dieser Steinkönig, der immer höher wirkt, als er ist.
An klaren Tagen flüstern die Locals, sei sogar das Monte-Rosa-Massiv in der Ferne zu erkennen. Heute reicht mir, was ich sicher sehe – es ist. mehr als genug.
Ich setze mich auf den Beton, der einst das höchstgelegene Fort Europas trug. Ich spüre, wie sich in mir etwas verschiebt. Ich kam auf der Suche nach schnellen Trails, nach Action und Adrenalin. Gefunden habe ich die Liebe zur Langsamkeit. Mit Schleichfahrt durch die Berge zu gondeln, hat mir den Alltag von den Schultern geschüttelt.
Das Susatal kann beides: Beschleunigung und Entschleunigung. Wer Adrenalin sucht, fährt in die Bikeparks. Wer Ruhe sucht, geht in die Höhe. Hier oben auf dem Mont Chaberton fühlt es sich an, als hätte ich für einen Moment meine Mitte gefunden.