Schon als junger Knirps zu Grundschulzeiten ist es mein großer Traum mit meinem Kettler Alurad samt Sack und Pack die Welt zu entdecken. Genauso wie es mein Vater in seiner Jugend gemacht hat. Bereits mit 12 Jahren ist er zusammen mit seinem Cousin vom Allgäu in den Schwarzwald zur Verwandtschaft geradelt. Alles Nötige in einfachen Packtaschen verstaut und das schwere Baumwollzelt obendrauf gepackt. Getragen von einem großartigen Gefühl aus Freiheit und Abenteuer. Alleine unterwegs zu sein, das Zelt irgendwo am Wiesenrand aufzuschlagen, mit dem Campingkocher Ravioli in der Dose warm zu machen und es zu feiern, als sei es ein 5-Gänge-Menü im Sternerestaurant. Das hat mich immer fasziniert.
Eines Sommers, ich war glaube ich in der fünften Klasse, haben mein Kumpel und ich im Ferien-Zeltlager in den Ferien zwei Mädels kennengelernt. Wir hatten viel Spaß in dieser Woche und wollten sie unbedingt einmal besuchen. Die Frage war nur, wie kommen wir in das 35 Kilometer entfernte Dorf, in dem die beiden wohnten? Zugverbindung gab es keine, aber wir hatten ja Fahrräder. Ich fing an zu planen, habe mit Hilfe der Rad-Karte meiner Eltern die beste Strecke raus gesucht, mir überlegt was ich alles mitnehme und es in die alten Packtaschen meines Vaters gestopft. Am Ende kam es zwar nie dazu, aber alles schon mal im Kopf durchgespielt zu haben, hat sich einfach nur großartig angefühlt.
Mein erster Bikepacking Trip
Ein paar Jahre später ist es endlich soweit. Korsika is calling. Zusammen mit meinem Kumpel Stadi mache ich mich auf den Weg die wilde Insel mit dem Radl zu umrunden. Geschlafen wird im Zelt, gekocht auf dem alten Benzinkocher meines Vaters. Wir stürmen ausgehungert kleine Lebensmittelläden und kaufen mehr ein als wir jemals essen und in unseren Packtaschen verstauen können. Wir trinken mit Jägern selbstgebrannten Kräuterschnaps, springen in eiskalte Gumpen, jagen wilde Hausschweine durch Eichenwälder und inhalieren den würzigen Duft wilder Macchia. Ich erlebe den heftigsten Sturm und damit auch schlimmsten Gegenwind meines bisherigen Lebens. Wir bestechen in Bastia den Zug-Schaffner uns trotz Räder und Gepäck in der kleinen Schmalspurbahn mitzunehmen, um diesem stürmischen Ungeheuer zu entfliehen. Es fühlt sich nach großer Freiheit und verrücktem Abenteuer an. Und genau dieses intensive Erlebnis des Unterwegssein möchte ich auch meinen Kindern zeigen.
Mein erster Bikepacking Trip mit meinem Sohn
Nach ein paar Anläufen schaffen wir es endlich, Corona sei dank, unsere erste gemeinsame Bikepacking Tour als Familie nicht nur zu planen, sondern sie auch zu unternehmen. Zumindest fast, denn 50 Prozent unserer Viererer-Crew schwächeln. Meine Frau hat sich im Home-Office die Bänder im Sprunggelenk überdehnt und tanzt wackelig mit Schiene durch die Gegend und Lorenz laboriert an einem Gräser-Pollen-Knock-Out. Also bleiben noch Paul und ich übrig, aber wir ziehen es jetzt durch. Die Route haben wir geplant. Müsliriegel, Nüsse, Trockenobst, Spaghetti und rotes Pesto haben wir gekauft. Parmesan und Olivenöl fürs Abendessen, Nutella und Kaffee fürs Frühstück abgefüllt. Zelt, Schlafsäcke, Isomatten, Erste-Hilfe-Set, Zahnbürstl und Wechselklamotten sind ebenso hergerichtet, wie Gaskocher, Kochtopf und die kleine Bialetti für den Frühstückskaffee. Da unser geplantes Ziel der Forggensee ist, packen wir natürlich auch unsere Badehosen ein.
Der Wetterbericht hat ein Schönwetterfenster für die kommenden zwei Tage angekündigt. Paul ist sichtlich aufgeregt, als ich ihm beim Frühstück sage, dass wir morgen starten. Wie ein Flummi hüpft er den Rest des Tages durch die Gegend und löchert mich mit allen möglichen Fragen: Wie lange wir unterwegs sein werden, wie viele Höhenmeter es nochmal sind, ob er das überhaupt schaffen wird und vor allem, wo wir denn schlafen werden. Dieses leicht spannungsgeladene Gefühl der Vorfreude und des nicht genau Wissens, was einen wirklich erwartet, ob alles so hinhaut, wie man es geplant und sich ausgemalt hat, macht es für mich jedesmal von Neuem spannend. Und dieses Mal besonders. Wie wird es mit Paul sein? Wird er es cool finden und Spaß haben? Auch wenn wir schon viele Biketouren unternommen haben, so ist es das erste Mal, dass wir zwei Tage hintereinander jeden Tag um die 50 Kilometer und 700 Höhenmeter radeln werden und dazu noch mit Gepäck. Ich bin gespannt.
Wir verstauen alles in unseren wasserdichten Bikepacking-Taschen und obwohl diese im Vergleich zu den klassischen Packtaschen, mit denen ich früher unterwegs gewesen bin, viel kleiner sind, findet alles einen Platz. Paul bekommt zusätzlich noch ein kleines Wimmerl um die Hüften geschnallt, in dem er seine Müsli-Riegel, Uno Karten, eine zweite Trinkflasche sowie ein langes Shirt verstaut. Ich nehme noch einen 20-Liter Bikerucksack mit, in dem ich in erster Linie Wasser und Essen transportiere.
Der Wetterbericht scheint recht zu behalten. Bei strahlend blauem Himmel stehen wir am nächsten Morgen auf, frühstücken noch gemütlich auf der Terrasse und radeln dann los, direkt von unserer Haustüre in Uffing. Das erste Stück der Strecke kennen wir in und auswendig. Gefühlt sind wir es dieses Jahr schon mindestens zwanzigmal geradelt. Doch ab Bad Kohlgrub ist es mehr oder weniger Neuland für uns. In Scheibum, bei der wildromantischen Ammerschlucht zwischen Saulgrub und Unternogg, legen wir unsere erste Brotzeitpause ein. Bisher lief es wie am Schnürchen und Paul hat sich wacker geschlagen. Wenn es nach ihm ginge, könnten wir allerdings auch schon hier unser Lager aufschlagen, einfach abhängen und uns von den hohen Felsen in die Ammer stürzen. Aber da gibt es ja noch den Forggensee, und zweidrittel der Strecke, die noch vor uns liegt.
Direkt nach unserer Pause wartet das erste Schiebestück auf Paul und es wird sichtlich anstrengender. Wir haben mittlerweile den Fuß der Trauchgauer Berge erreicht. Von jetzt an geht es erstmal nur noch bergauf. Mit jedem Höhenmeter lässt die Kraft bei Paul zusehends nach und seine Laune sinkt proportional dazu. „Nicht mehr weit, gleich sind wir am höchsten Punkt“ sage ich jetzt schon zum dritten Mal zu ihm. Er schaut mich nur ungläubig an. Tatsächlich müssten wir eigentlich schon längst den höchsten Punkt erreicht haben. Und irgendwie schaut es heute anders aus als gestern, als ich diesen Streckenabschnitt am Ende einer Trail-Scouting-Runde schon einmal gefahren bin, nur eben in entgegengesetzter Richtung. Paul ist genervt. So wie früher manchmal meine Frau, wenn ich ihr zum x-ten Mal versichert habe, dass es nur noch um die nächste Kurve geht und wir dann endlich oben sind, aber das Oben einfach nicht kommen wollte. Nachdem sich der nächste lange Schnapper vor uns aufbaut, hat für Paul der Spaß ein Loch. Er verweigert. Also schaue ich doch mal aufs Handy. Und tatsächlich, ich habe ungewollt einen Extra-Loop eingebaut. 80 Höhenmeter on top. Für uns Große nicht der Rede wert, für Paul kommt es fast einem kleinen Weltuntergang gleich. „Was, wir haben uns verfahren?! Und ich habe mich jetzt umsonst hier hoch gequält! Oh Mann, Papa! Das nervt mega!“ Nach viel gutem Zureden, einem Schokoriegel sowie einer erfrischenden Kopfdusche im nahen Gebirgsbach kühlt sich sein überhitztes Gemüt allmählich ab und die Welt schaut nicht mehr ganz so beschissen aus.
Zum Glück erreichen wir tatsächlich nach ein paar Minuten bergauf schieben die Abzweigung, von der wir zur Königstraße kommen. Wir sind wieder back-on track und bis auf einen leichten Anstieg geht es jetzt nur noch bergab Richtung Trauchgau und Halblech. Die Gegend weckt Erinnerungen an vergangene Mountainbiketage. Es war die Zeit, als ich mit meinem Spezl Michi, seiner roten Ente und unseren Bikes hinten drauf, Richtung Halblech oder Schwangau gezuckelt bin, um die Trails in der Gegend auszukundschaften. Gefühlt ist das schon eine Ewigkeit her. So lange, dass ich schon überhaupt keine Erinnerung mehr habe, wie schön es hier am milchig blauen Forggensee mit den dahinter steil aufragenden Bergen samt dem ikonenhaften Schloss Neuschwanstein ist.
Nur noch vier Kilometer trennen uns von unserem großen Tagesziel. Die Energiespeicher sind leer und wollen unbedingt aufgefüllt werden. Zu allem Überfluss zieht sich die Dorfstraße durch Berghof steil und nicht enden wollend nach oben. Wie bestellt flattert an einem alten Bauernhaus ein Bio-Eis-Fähnchen. Ein paar Tische und Stühle sind ebenso vor dem Haus aufgebaut. Pauls Rettung und damit auch meine. Es ist ein kleiner, netter Bioladen mit Café. Masken auf und rein. Rauskommen wir vollbeladen mit Cola, Joghurt-Himbeereis, Schoko-Rüblikuchen und noch Proviant fürs Frühstück am nächsten Morgen. Mit jedem Schluck Cola, jeder Gabel Schoko-Rüblikuchen und jeder Eis-Schleckbewegung kommt die gute Laune wieder zurück und der Stolz es fast geschafft zu haben wird immer größer.
Das letzte Stück hinauf, hinüber und schließlich hinunter zum See ist nicht mehr der Rede wert. Stolz wie Oskar sitzen wir beide am Seeufer, lassen uns die Sonne auf den Pelz scheinen und genießen das wirklich saukalte Nass. Während ich Weichei mich nur bis zu den Knien rein traue, wirft sich Paul immer wieder in den eiskalten, künstlich aufgestauten See und hat seine wahre Freude daran. Mit Uno-Spielen und meditativ auf See und Berge starren verbringen wir die Zeit bis unser Hunger so groß ist, dass wir den Campingkocher anschmeißen, um unser #dinnerwithaview zu kochen. Selten haben Spaghetti mit rotem Pesto so gut geschmeckt wie in diesem Moment. Paul ist sichtlich happy und ich mega stolz auf ihn. Alles richtig gemacht.
Die Sonne ist längst untergegangen. Außer den Glocken der in der Nähe weidenden Kühe ist nichts mehr zu hören. Glücklich und zufrieden, auch darüber, dass der Plan für den ersten Tag ziemlich gut aufgegangen ist, kriechen wir in unsere Schlafsäcke und lassen uns vom Gebimmel der Kuhglocken in den Schlaf wiegen. Es dauert keine zwei Minuten und Paul ist eingeschlafen.
Die Morgenfrische gegen fünf Uhr zwingt mich aus dem Schlaf. Mein Temperaturempfinden entspricht offensichtlich nicht dem Durchschnitt. Meine Uhr zeigt im Zelt neun Grad Celsius an. Das ist zwar genau die empfohlene Komforttemperatur meines Schlafsacks, aber ich friere trotzdem. Paul dagegen schlummert noch friedlich neben mir. Ihm scheint die Temperatur offensichtlich nichts auszumachen. Der Tag erwacht allmählich und so auch Paul. Zum Gebimmel der Kuhglocken gesellen sich immer mehr zwitschernde Vögel und die ersten Sonnenstrahlen brechen durch die Baumwipfel. Ich schmeiße den Kocher an und setze den Morgenkaffee auf, während Paul unser kleines Frühstücksbuffet mit Blick auf See und Berge herrichtet. Wieder großes Kino!
Am liebsten würden wir beide einfach hier bleiben, aber es wird Zeit, dass wir uns von unserem Traumspot verabschieden. Wir verstauen wieder alles in unseren Packtaschen und machen uns auf den Weg. Es ist im wahrsten Sinn des Wortes ein Kaltstart. Vom Seeufer aus geht es gleich mal ordentlich bergauf und schnell wird klar, der gestrige Tag hat seine Spuren hinterlassen. Die Beine fühlen sich schwer an und Paul ist dezent unmotiviert. Ich bin mal gespannt, was der heutige Tag bringen wird. Vor uns liegen schließlich wieder gut 700 Höhenmeter und knapp 60 Kilometer. Zurück in Berghof mit den ersten 100 Höhenmeter im Sack füllen wir wieder unsere Brotzeitreserven für den Tag auf. Denn es gibt fast nichts Schlimmeres, als nicht ausreichend Proviant dabei zu haben. Ab Halblech folgen wir zuerst der Teerstraße Richtung Kenzenhütte. Obwohl wir früh dran sind, ist schon ordentlich Shuttlebus- und E-Bike-Verkehr. Geschätzte 80 Prozent sind mit Motorunterstützung unterwegs, jung wie alt. Nachdem uns die dritte Familie, alle auf E-Motor-Rädern, überholt, ist bei Paul der Ofen aus. Schwere Beine und dann obendrauf noch gleichaltrige Kinder, die ihn bergauf mit Vollgas überholen, das packt er nicht. Frustriert bleibt er am Wegrand stehen und verweigert die Weiterfahrt. Eine Käsestange und Apfelschorle später setzen wir unsere Fahrt fort. Nachdem wir endlich den Kenzenhütten-Highway verlassen, nimmt der Rad-Verkehr deutlich ab und damit auch Kids auf E-Bikes, die ihn überholen.
Es läuft wieder, zumindest kurzfristig. Plötzlich reißt bergauf Pauls Kette. „Oh Mann, der Junge muss doch noch Wumms in den Haxn haben“, denke ich mir. Also, Tool raus, verbogenes Glied raus, neues Kettenschloss rein, verschließen und weiter gehts. Nachdem wir den letzten brutalen Anstieg Richtung Wasserscheide schiebend hinter uns gebracht haben, öffnet sich ein idyllisches Hochtal. Dunkle Ronja-die Räubertochter-Tannenwälder voll mit Moosen und Farnen wechseln sich ab mit saftig grünen Wiesen, auf denen Kühe grasen und kleine Hütten stehen. Über allem thronen die schroffen Felsspitzen der Ammergauer Alpen, die in den bewölkten Himmel ragen. Über weite Teile der Strecke zwischen Halblech und Unternogg plätschert neben uns Bach oder Fluss. Idylle pur.
Kurz nach dem höchsten Punkt unseres heutigen Tages kommen wir auf der Suche nach einem schönen Pausenplatz an einer Waldarbeiterhütte vorbei. Einen besseren Ort für unsere Mittagspause und Leckereien hätten wir nicht finden können. Obendrauf gibt es noch eiskaltes Wasser aus dem Brunnen. Paul und ich sind uns einig, so eine Hütte hätten wir gerne irgendwo abgeschieden in den Bergen. Am liebsten würden hier bleiben. Auf der Veranda etwas abhängen, mit den Leuten ratschen, die kurz vorbeischauen, um die Trinkflaschen am Brunnen aufzufüllen und dann gegen Abend den Holzofen einschüren und es uns in der Hütte gemütlich machen. Doch dunkle, sich wie Baumkuchen auftürmende Wolken reißen uns aus unserem Tagtraum. Es schaut schwer nach Gewitter aus. Laut Wetterbericht sollte das Wetter eigentlich erst gegen Spätnachmittag kippen. Aber das mit den Apps ist ja immer so ne Sache. Mal schauen, wer schneller ist, wir oder das Gewitter.
Wir packen zusammen und radeln weiter. Nach all den Bergaufhöhenmetern geht es jetzt zu Pauls großer Freude erstmal 300 Höhenmeter am Stück bergab und wir fahren uns einen kleinen Vorsprung raus. Die dunklen Wolken halten sich jedoch hartnäckig und verfolgen uns. Als Paul bei Bad Baiersoyen zum zweiten Mal die Kette reißt, hören wir schon das nahende Donnergrollen und sehen dort, wo wir vor einer halben Stunde selber noch waren, heftige Regenschauer. Den geplanten Gelato-Einkehrschwung verlegen wir deshalb auf unseren Bäcker daheim in Uffing und geben Gas. Kurz vor Uffing trudelt dann eine Whats-App meiner Frau ein: Frischer Erdbeerkuchen mit Sahne wartet auf euch. Die Nachricht mobilisiert bei Paul nochmals die letzten Kraftreserven und wir fahren den dunklen Gewitterwolken davon.
Gerade als ich das letzte Rad zu Hause in die Garage schiebe, prasseln plötzlich dicke Hagelkörner aufs Garagendach und es fängt sintflutartig an zu regnen. Das nennt man wohl Timing. Auch heute ging der Plan im Großen und Ganzen wieder auf, zwar gespickt mit der einen oder anderen Herausforderung, aber genau die machen Bikepacking auch irgendwie spannend.
Als meine Frau Paul bei seinem dritten Stück Erdbeerkuchen mit dicker Sahnehaube fragt, ob es ihm denn gefallen hat, da meint er nur: „Das Kochen und Biwakieren am See fand ich super. Das Radeln war anstrengend, aber ok. Was mich echt genervt hat, waren die ganzen E-Biker, die mich bergauf überholt haben.“ Das kann ich irgendwie auch verstehen. Im Kopf plane ich aber schon unsere nächste Tour. Paul weiß noch nichts davon. Jetzt muss erst einmal etwas Gras über die E-Biker-Demütigung wachsen und dann greifen wir wieder an, hoffentlich in voller Familienstärke.