Was passiert in deinem Kopf, wenn du das Wort Wildnis liest? Dringt der Schrei eines exotischen Vogels im dicht bewachsenen Dschungel an dein Ohr? Zerrt ein Sandsturm an dem Tuch, das du dir ums Gesicht gewickelt hast, während deine Füße bei jedem Schritt in den Dünen versinken? Oder drehst du dich auf einem einsamen Berg einmal um die eigene Achse, um dich herum nur andere Gipfel, tief unten Wälder in sämtlichen Grünschattierungen – keine Straße, keine Dächer, keine Zivilisation weit und breit? Welches Bild auch immer in deinem Kopf auftaucht – es ist immer verbunden mit etwas Unbekanntem und irgendwie Faszinierendem. Die Wildnis ist für viele Menschen ein Sehnsuchtsziel geworden – auch für uns. Deshalb haben wir uns in den Balkan aufgemacht, um sie auf dem Dreiländer-Fernwanderweg High Scardus Trail zu finden.
Toni, Lisa und ich arbeiten für den Podcast BERGFREUNDINNEN beim Bayerischen Rundfunk. Für die ARD Mediathek produzieren wir immer wieder mehrteilige Dokuserien. Auch dieses Mal wollten wir unser Abenteuer von Kameras begleiten lassen – und sogar ein Buch darüber schreiben. Doch bei unseren Recherchen merkten wir schnell, dass wilde, unberührte Berge im dicht besiedelten Europa kaum noch zu finden sind. Vor allem, wenn wir sie mit dem Zug erreichen wollen. Und selbst wenn wir eine Region finden würden, die uns wild genug erscheint, sollten wir drei dann überhaupt dorthin reisen? Oder wäre es nicht besser, die letzten verbliebenen wilden Gebiete dieser Welt zu schützen? Wir standen vor zwei großen Fragen: Wo finden wir heute noch Wildnis und wie können wir sie verantwortungsbewusst erleben?
Nach einer langen Suche landeten unsere Finger auf der Landkarte auf den Balkanländern. Aus Berichten wussten wir, dass es dort noch recht unbekannte Berge gibt, die aber für ausländische Gäste immer mehr zugänglich gemacht werden sollen. Denn die Balkankriege prägen nach wie vor die Beziehung zwischen den teils sehr jungen Staaten. Ein wachsender, aber nachhaltiger Wandertourismus in den grenznahen Bergregionen soll nicht nur die Freundschaft der Länder untereinander stärken, sondern auch eine Existenzgrundlage für die abgelegene Bergbevölkerung schaffen, die stark unter der Abwanderung von jungen Menschen leidet. Dafür wurde unter anderem der Dreiländer-Fernwanderweg High Scardus Trail entwickelt. Insgesamt 22 Etappen, die von Nordost nach Südwest durch die Berge des Kosovos, Nordmazedoniens und Albaniens verlaufen. Für unser Abenteuer wählen wir die zehn schönsten, wildesten und anspruchsvollsten Etappen aus. Los geht’s im Skigebiet Brezovica im Kosovo und nach elf Tagen inklusive Pausentag wollen wir das Bergdorf Rabdisht in der Nähe von Preshkopi in Albanien erreichen. Insgesamt 170 Kilometer und 9.500 Höhenmeter wollen wir Ende September mit Zelt, Gaskocher und Minimalgepäck auf unseren Schultern zurücklegen. Dabei wollen wir immer wieder draußen in der Wildnis schlafen, tiefe Bärenwälder und weite Hochebenen durchqueren und auf dem majestätischen Korab (2.764 Meter), dem höchsten Berg von Nordmazedonien und Albanien, stehen.
Länder: Nordmazedonien, Kosovo & Albanien
Anfangspunkt: Staro Selo (Nordmazedonien, 40 km von Skopje)
Unser Einstieg: Brezovica (Kosovo, 80 km von Pristina, 70 km von Skopje)
Endpunkt: Sveti Naum am Ohridsee (Nordmazedonien, 30 km von Ohrid entfernt)
Unser Ausstieg: Rabdisht (Albanien, 100 km von Tirana)
Länge: 362 km, 22.500 hm
Unsere Etappen: 175 km, 9.500 hm
Gebirge: Sharr, Korab, Deshat, Jablanica & Galichica
Seehöhe: von 700 m bis zu 2.764 m
Längste Etappe: Etappe 8, Brod-Restelica, 26 km, ca. 8 h
Beste Wanderzeit: Mitte Juni bis Mitte Oktober
Viele Menschen sind auf dem High Scardus Trail im Herbst nicht unterwegs. Außer ein paar Schäfern mit ihren Schafherden begegnen wir kaum jemanden. Der selten begangene Pfad, auf dem wir unterwegs sind, ist oft von so hohem Gras oder dornigem Gestrüpp zugewachsen, dass wir ohne die GPS-Tracks teilweise Schwierigkeiten hätten, ihn zu finden. Nur langsam kommen wir voran, benötigen für einige der Etappen den ganzen Tag. Die schweren Rucksäcke machen unseren Weg über Blockfelder und Bergbäche noch mühsamer. Schon an Tag drei melden sich an unseren Körpern die ersten Wehwehchen. Doch die atemberaubende Berglandschaft mit den sattgrünen, sanften Hügeln, die immer wieder von tiefroten und sonnengelben, spätherbstlichen Heidesträuchern durchzogen sind, belohnt unsere Anstrengung. Immer wieder bleiben wir stehen, um durchzuschnaufen und zu staunen – oder an einer Quelle unsere Trinkflaschen mit Wasserfiltern aufzufüllen. Hütten oder Selbstbedienungsrestaurants sucht man hier vergeblich – alles, was wir unterwegs auf den bis zu 28 Kilometer langen Etappen brauchen, tragen wir in unseren Rucksäcken. Oft müssen wir über 1.000 Höhenmeter auf- und dann wieder absteigen. Denn obwohl wir eigentlich die stille und einsame Wildnis suchen, möchten wir auch die Menschen und das Leben in den kleinen Bergdörfern kennenlernen. Fast überall finden wir in den Ortschaften am Ende einer Etappe kleine Gästehäuser, in denen wir nicht nur mit hausgemachtem Schafskäse, frischem Gemüse, selbstgebackenem Brot und gebratenem Fisch verpflegt, sondern auch mit einer unglaublichen Herzlichkeit empfangen und umsorgt werden.
Eine unserer Gastgeberinnen ist Sonja Manchevska. Wir treffen sie an unserem Pausentag im Mavrovo-Nationalpark in Nordmazedonien. Der größte Nationalpark des Landes ist ein wahres Outdoor-Mekka. Im Sommer kann man hier Wandern, Mountainbiken, Angeln, Baden und noch viel mehr. Im Winter gibt es präparierte Pisten zum Skifahren und Snowboarden. 2016 kam Sonja mit ihrem Mann Vladimir hierher, baute ein großes, wunderschönes Gästehaus aus dunklem Holz, grauem Naturstein und einem grünen Dach. Seitdem empfangen sie bergbegeisterte Gäste, bieten Führungen in Höhlen und Kochworkshops für Jugendliche an. „Wenn du als Frau nicht gut kochen kannst, wirst du keinen Ehemann finden – Geschlechterstereotype sind die mazedonische Realität“, erzählt sie uns mit einem ironisch Schmunzeln in ihrer geräumigen Outdoorküche. Als sie unsere verdutzten Blicke sieht, fügt sie hinzu: „Nach außen ist in Mazedonien der Mann der Repräsentant der Familie. Aber in Wirklichkeit, wenn Sie hinter die Kulissen blicken, ist es immer die Frau, die alles zusammenhält.“
Der (Wander-)Tourismus in den Balkanländern bringt den wirtschaftlich schwachen Ländern neuen Wohlstand und spendet Hoffnung gegen die Abwanderung junger Menschen. Trotz der immer weiterwachsenden Gästezahlen finden wir auf unserem Abenteuer einsame Berggipfel, stille Trails und ein Gefühl von Freiheit und Wildnis. Trotzdem stellen wir uns die Frage: Wie lange wird es diese Wildnis noch geben? Werden auch zukünftige Wandernde noch das Gefühl absoluter Einsamkeit erleben – oder sind wir vielleicht schon die Letzten, die sie so sehen? Unsere Begegnungen mit inspirierenden Frauen, die sich für nachhaltige Konzepte einsetzen, lassen uns hoffen, dass der Balkan es schafft, seine Ursprünglichkeit, das Wilde und Faszinierende zu erhalten.
Ihr glaubt, der Balkan könnte eine spannende Reiseregion sein? Liebäugelt vielleicht sogar mit dem High Scardus Trail? Oder ihr wollt euch hinaus in die Wildnis wagen, traut euch aber noch nicht so recht? Oder ihr lest gerne Abenteuergeschichten von starken Frauen? Dann ist "Wilde Berge des Balkan - ein Fernwanderabenteuer der Bergfreundinnen" das richtige Buch für euch. Es geht um Freundschaft, Zweifel, Über-sich-Hinaus-Wachsen und Tipps zur Verpflegung, Wasserversorgung oder zum Umgang mit dem Bären werden en passant mitgeliefert! Für 18.99 Euro gehört das zweite Buch der Bergfreundinnen, bekannt aus dem BR Podcast und diversen Doku-Serien, euch.
Alles, was die Bergfreundinnen auf ihrer Reise erlebt haben – die unerwarteten Begegnungen, die Momente des Zweifels, die Herausforderungen, die uns an unsere Grenzen brachten – haben sie in einer Dokuserie festgehalten. Zur ersten Folge in der ARD Mediathek geht es hier lang.
An diesem Text haben Anja Wörtge und Antonia Schlosser mitgewirkt. Die Fotos sind von Timeline Productions / Bayerischer Rundfunk.