Mein Patenkind feiert seinen 18. Geburtstag, ein Meilenstein in einem so jungen Leben. Ich erinnere mich noch sehr gut an diese Zeit, das Gefühl von Freiheit, tun und sein lassen, was man möchte, selbst mit dem Chrysler Voyager meiner Mutter bis unters Dach vollgeladen mit Camping Gear und Bikes an den Gardasee fahren zu können und sich nie mehr Gedanken machen zu müssen, ob man in den Augen des Türstehers alt genug aussieht, um Einlass in den Club zu bekommen. All das ist Vergangenheit und die Zukunft verspricht ein großes Abenteuer zu werden.
Als sich der Geburtstag von Antonia nähert und ich mir Gedanken darüber mache, was man wohl im Jahr 2020 einer 18-jährigen jungen Frau zu diesem besonderen Geburtstag schenkt, bin ich ehrlich gesagt dezent überfordert. Nachdem ich den Tipp bekomme, dass sie sich über eine gemeinsame Aktion freuen würde, schießen mir gleich unzählige Ideen durch den Kopf, die ich cool finde. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie sie auch cool finden würde. Unser letzter gemeinsamer „Event“ liegt auch schon ein paar Jahre zurück und hat mich an meine persönlichen Grenzen gebracht. Sie hat sich von mir einen gemeinsamen Tag im Allgäu Skyline Park gewünscht. Genau das Richtige für mich, der nie über das Kinderkarussel hinausgewachsen ist und plötzlich sich in erst harmlos aussehenden Riesenschiffschaukeln wiederfindet, die sich später als wahre Folterinstrumente entpuppen. Für mich war der Tag mehr Grenzerfahrung als Abenteuer. Das Gute diesmal jedoch ist, dass ich entscheiden kann, was wir gemeinsam unternehmen.
Ich bin ein absoluter „Auf-dem-Berg-übernachten-Fan“, egal ob in einer Hütte oder unter freiem Himmel. Und ich dachte mir, dass es ein cooles Geschenk zum 18. sein könnte: Wenn wir gemeinsam auf einen Berg kraxeln, dadurch automatisch viel Zeit zum Ratschen haben, oben übernachten und uns zur Krönung den Sonnenaufgang anschauen. Für mich wäre das damals ein echtes Abenteuer gewesen. Also könnte es vielleicht auch eines für Antonia sein. Und es wäre auch das erste Mal für sie. Um auf Nummer sicher zu gehen, halte ich kurz Rücksprache mit ihrer Mutter. Die würde am liebsten selber mitgehen, weil sie sowas auch noch nie gemacht hat. Sollte also Antonia keine Lust haben, dann würde es mit der Mama schon eine Fallback-Option geben. Ich mache mich ans Gutschein basteln, säge eine Bergsilhouette aus einem Stück Lärchenholz aus und pimpe es mit einer Stirnlampe, einem Müsliriegel und einer Tüte gefriergetrockneter Frühstücksflocken mit Himbeeren. Soll ja ein Rundum-Sorglos-Paket sein. Als ich ihr schließlich an ihrem Geburtstag den gebastelten Gutschein überreiche, schaut sie mich mit großen, fragenden Augen an: Wtf is this? Nachdem ich ihr erkläre, dass es sich dabei nicht um ihre neue Garderobe handelt, sondern um einen Gutschein für ein gemeinsames Bergabenteuer, weicht der skeptisch fragende Gesichtsausdruck einem „Ah ok-Lächeln“ und sie lässt sich sogar zu einem kurzen „cool“ hinreißen. Ich bin mal gespannt!
Eine Woche später ist es soweit und ich hole sie bei uns am Bahnhof ab. Von dort fahren wir weiter zum Walchensee, eigentlich momentan eine No-Go-Area. All die parkenden Autos verheißen nichts Gutes. Aber Antonia meint ganz entspannt, „keine Sorge, wir finden einen Parkplatz, denn ich bin der Parkplatz-Engel“. Na dann. Und tatsächlich, als wir hinter dem See bei Einsiedel auf den Wanderparkplatz fahren, stehen nur vier Autos verloren auf dem großen Parkplatz herum. Da hatte mein Parkplatz-Engel zum Glück recht. Von hier aus starten wir zu unserem heutigen Gipfelziel, dem Simetsberg.
Auch wenn es laut Antonia schon einige Jahre her ist als sie das letzte Mal beim Wandern war, legt sie trotz großem Rucksack ein ordentliches Tempo vor. Ich muss schauen, dass ich nicht den Anschluss verliere. Bergauflaufen, mit einem gut 15 Kilo schweren Rucksack, dazu noch ununterbrochen mit einer nur so aus sich heraussprudelnden 18-Jährigen ratschen, fordert mich ordentlich. Genauso hatte ich es mir vorgestellt. Zeit miteinander verbringen, dabei etwas cooles zu unternehmen und sich über die wichtigen Dinge des Lebens austauschen. Ich habe das Gefühl, es taugt ihr und sie hat ihren Spaß, auch wenn es körperlich etwas anstrengend ist. Der Rucksack, den sie aus dem elterlichen Gear Room gefischt hat, ist eigentlich für ihre zierliche Figur zu groß und sitzt nicht sonderlich gut. Ähnlich verhält es sich mit ihren Schuhen. Aber das bringt sie nicht aus der Ruhe und schmälert nicht im geringsten ihre Fröhlichkeit. So haben wir im Nu die ersten 400 Höhenmeter im Sack und die etwas öde Forststraße hinter uns. Jetzt steigen wir auf einem wurzelig-steinigen Pfad steil durch den teils dichten, teils lichten Bergwald nach oben. Auf rund 1.600 Metern treffen wir auf die alte Diensthütte, an der wir kurz Pause machen, bevor wir den Gipfelanstieg in Angriff nehmen. Hinter uns schimmert der Walchensee im sanften Abendlicht und vor uns liegt die Hochalm des Simetsberg, auf dem sich unzählige Kühe mit ihren bimmelnden Glocken tummeln. Ansonsten niemand weit und breit. Die Rundumsicht hier oben ist vom Allerfeinsten. Sie reicht vom Heimgarten über die Benediktenwand und den Guffert, hinein ins Karwendel mit der markanten Soiernspitze direkt gegenüber von uns, weiter ins Wettersteinmassiv mit Alp- und Zugspitze und endet beim Estergebirge mit der Hohen Kiste, an die der freistehende, 1.840 Meter hohe Simetsberg mehr oder weniger anschließt.
Kurz überlegen wir an der Hütte, ob wir die schweren Rucksäcke einfach zurücklassen und ohne unseren ganzen Hausstand auf den Gipfel gehen. Aber da ich noch nicht weiß, wo genau wir unser Lager für die Nacht aufschlagen werden, entscheide ich mich dafür, alles mitzunehmen Die letzten 200 Höhenmeter bis zum Gipfelkreuz schauen total harmlos aus, haben es aber in sich. Nach Kuhslalom, Bremsenrodeo und Latschentunnelkriechen stehen wir glücklich am Gipfel. Antonia ist sichtlich stolz. Sie findet es regelrecht großartig inmitten dieser beeindruckenden Gebirgslandschaft zu sein, genießt die Aussicht und auch Ruhe hier oben. Sie erzählt von ihrer Freundin Evia, mit der sie Klettern geht. Die ist viel mit ihren Eltern draußen unterwegs am Berg genauso wie beim Kayakfahren. Mit ihr möchte sie so etwas unbedingt auch einmal machen, auf einen Berg gehen und dann oben übernachten. Das zu hören freut mich innerlich sehr. Sie scheint inspiriert zu sein und wieder Gefallen am Wandern gefunden zu haben.
Schon während des Gipfelanstiegs habe ich die Augen nach einem passenden Übernachtungsplatz offen gehalten. Da sich die Kühe tendenziell weiter nach unten begeben haben, entscheiden wir im oberen Teil des Almgeländes zu bleiben. Zwei Spots habe ich mir vom Gipfel aus ausgeguckt und wir entscheiden uns für den oberen der beiden. Von dort haben wir nicht nur einen wahnsinnig schönen Blick, sondern finden auch ein einigermaßen ebenes Stück Wiese ohne Kuhfladen. Und der Abstand zu den zwei großen Kuhherden, die sich hier oben herumtreiben, scheint zu dem Zeitpunkt auch mehr als ausreichend zu sein.
Glücklich darüber endlich die schweren Rucksäcke für heute ablegen und die überhitzten Füße aus den Bergschuhen schälen zu können, bauen wir unser kleines Biwak auf. Der Bauch knurrt, immerhin waren es 1.000 Höhenmeter und durstig sind wir auch. „Was würde ich jetzt für ein kaltes Getränk geben“, meint Antonia, als ich gerade den Topf mit Wasser fülle, um darin die Spaghetti zu kochen. Als ich dann aus meiner Daunenjacke zwei Radler hervorzaubere macht sie große Augen und meint nur, „oh mann, das ist jetzt mal richtig cool!“ Schwupp die wupp und jeder von uns hat ein noch immer kühles Radler in der Hand. Und es schmeckt großartig! Da steigt mein Patenonkel-Punktekonto. Kurz darauf kocht auch das Wasser auf dem Gaskocher. Salz und Spaghetti rein und los gehts mit dem Geblubbere. Hungrig machen wir uns über Nudeln mit rotem Pesto und frisch geriebenen Parmesan her. Die Kühe mit ihren melodisch scheppernden Glocken sorgen für eine angemessene Hintergrundmusik.
Als der Glocken Sound jedoch immer lauter wird ist klar, dass die Herde ihre Richtung geändert hat und eher wieder nach oben unterwegs ist. Es dauert nicht lange und plötzlich steht die erste Kuh vor uns. Aus einer werden drei und aus drei werden neun. Neugierig kommen sie immer näher, beschnuppern alles, bis die erste sich mit meinen Trekkingstöcken im Maul davon stiehlt. Ich springe ihr hinterher und will meine Stöcke wieder haben. Das erschreckt sie so sehr, dass sie die Stöcke wieder auslässt. Währenddessen macht sich unbemerkt eine zweite Kuh über mein verschwitztes Merino Shirt her, das ich zum Trocknen in die Wiese gelegt habe.
Sie schnappt es und haut damit ab. Ich wieder hinterher, aber so schnell kann ich gar nicht schauen wie es Stück für Stück in ihrem Maul verschwindet. Genüsslich kaut sie darauf herum. Ich fass es nicht. Antonia findet das ganze überhaupt nicht mehr lustig. Sie fühlt sich merklich unwohl. Und es werden immer mehr Kühe. Das Shirt habe ich abgeschrieben. Jetzt packen wir schnell unsere Isomatten und Schlafsäcke sowie Kochutensilien zusammen, stopfen alles in unsere Rucksäcke und treten die Flucht nach vorne an. Ein Nudelschälchen haben wir in der Eile vergessen. Umringt von drei Kühen steht es verloren auf der Wiese und glänzt wie frisch aus der Spülmaschine. Die Kühe haben alles gegeben.
Als Fallback für plötzlich aufziehendes Gewitter oder eben unartige Kühe, hatte ich die kleine Veranda der Diensthütte schon im Hinterkopf. Jetzt bin ich froh über diese Option. Die Aussicht ist zwar nicht so grandios wie hier oben, aber dafür kommt uns auch garantiert keine Kuh zu nahe, da die Hütte komplett eingezäunt ist. Antonia ist sichtlich erleichtert, als wir ein zweites Mal diesen Abend unser Lager einrichten, wohlwissend, dass wir hier vor Wetter und Vieh safe sind. Gemütlich ist es auch.
Während wir am frühen Abend komplett alleine am Berg waren, gesellen sich zum Sonnenuntergang noch ein paar Wandersleute dazu. Leicht verwundert sind wir, als plötzlich gegen 23 Uhr Stimmen und Musik aus dem Wald zu uns herauf dröhnen. Mit leichter Verspätung schleicht eine Sonnenuntergangs-Nachzügler-Dreier-Berg-Gang samt Pizzakarton in der Hand und Beatbox am Rucksack an der Hütte vorbei. Schon verrückt denke ich mir, wer hier abends so unterwegs ist und vor allem wie. Während Antonia noch über eine App 150 von 1100 möglichen Fragen für die anstehende Führerscheintheorieprüfung übt, kuschle ich mich schon in meinen Schlafsack. Frieren wie vor ein paar Wochen als ich mit meinem Sohnemann auf einem Zwei-Tages-Bikepacking-Trip war, werde ich heute Nacht auf alle Fälle nicht, denke ich mir, als ich schon nach fünf Minuten den Reißverschluss von unten her aufmachen muss, da es mir viel zu warm ist.
Den Wecker habe ich auf 4.45 Uhr gestellt, damit wir pünktlich zum Sonnenaufgang wieder oben an unserem alten Platz sind. Das erste Mal wache ich schon um 1.15 Uhr auf, als die Dreier-Gang mit Pizzakarton wieder durch die dunkle Nacht nach unten stolpert. Ab da schlafe ich gefühlt nicht mehr richtig, was natürlich ein Trugschluss ist. Kurz vor dem Wecker wache ich dann wieder auf und beobachte wie im Osten, über dem Walchensee das Licht so allmählich die Dunkelheit ablöst. Mein Gruscheln nach der Kamera weckt Antonia auf. Noch recht müde schält sie sich auch aus ihrem Luxuschlafsack mit Fellfutter und wir watscheln wieder die 100 Höhenmeter nach oben. Genau für diesen besonderen Moment, wenn der Tag die Nacht wachküsst und die Strahlen der aufgehenden Sonne allmählich alles in ein sanftes Licht tauchen, nehme ich so einiges in Kauf, auch ein gefressenes Merino Shirt. Und ich glaube, Antonia ergeht es ähnlich. Gebannt sitzt und steht sie da, schaut einfach zu, was um sie herum passiert und strahlt mit der aufgehenden Sonne um die Wette. Irgendwann meldet sich der Appetit zurück und wir steigen ab zur Hütte. Beseelt von diesem schönen Morgen futtern wir unsere Morning Oats aus der Tüte, gepimpt mit frischen Blaubeeren, trinken frisch gebrühten Tee und Kaffee und lassen uns die Morgensonne ins Gesicht scheinen. Was für ein wundervoller Start in den neuen Tag.
Beim Abstieg schmieden wir schon Pläne fürs nächste gemeinsame Abenteuer. Und wir sind uns einig, dass wir dann auch Antonias Bruder sowie meine beiden Jungs mitnehmen. Denn die waren alle drei ein bisschen neidisch und enttäuscht, dass sie diesmal nicht mit durften.
Keine 15 Stunden später sind wir zurück am Parkplatz. Es ist gerade mal neun Uhr in der Früh und es fühlt sich an, als wären wir Tage unterwegs gewesen. Eigentlich ein klassisches 5-to-9-Microadventure, wie man das heutzutage auf Neudeutsch bezeichnet, kurz, aber so intensiv an Eindrücken und Erlebnisse, dass man für Tage damit geladen ist.
Als wir im Auto zurück nach Uffing sitzen und unser kleines Abenteuer Revue passieren lassen, sind wir einer Meinung, es hat uns beiden großen Spaß gemacht. Mich persönlich freut es am meisten, dass ich ihr etwas neues zeigen konnte, das mir viel bedeutet, und sie Gefallen daran gefunden hat: draußen in der Natur unterwegs zu sein, möglichst autark und ohne großen Schnickschnack.
Wir haben lange darüber diskutiert, ob wir diese Geschichte bringen oder nicht, da der Freizeitdruck auf die Alpen dieses Jahr extrem zugenommen hat und dadurch auch die Probleme. Wir sind uns bewusst, dass wir Teil des Ganzen sind und durch unsere Geschichten auch dazu beitragen, dass die Leute rausgehen und etwas erleben möchten. Das ist auch gut so. Wir hoffen und gehen davon aus, dass Outville-Leser*innen verantwortungsbewusste Menschen sind und nicht wie die Pizzakarton Dudes mitten in der Nacht mit lauter Musik durch die Berge stapfen. Genauso selbstverständlich wie wir verantwortungsbewusst mit Flora und Fauna umgehen und dementsprechend unseren Müll wieder mitnehmen, so respektieren wir auch Schutzzonen für Tiere, verhalten uns unauffällig und machen keinen Lärm. Wenn wir uns alle die paar wenigen Verhaltensregeln zu Herzen nehmen, dann haben wir alle noch lange etwas von unserer wunderbaren Natur, wir die Gäste, aber vor allem auch die Einheimischen, egal ob Pflanzen, Tiere oder Menschen.
Weitere Infos was, wo und wie erlaubt ist oder nicht, findet ihr beim DAV.
Ausgangspunkt: Wanderparkplatz bei Einsiedel am südlichen Ende des Walchensees (840 Meter). Ein zweiter größerer Parkplatz befindet sich bei Obernach.
Charakter: Einfache Bergwanderung, die über Forststraßen und kleine Pfade und Steige führt.
Höhenmeter: 1. 000 Meter
Aufstieg: ca. 2,5 Stunden
Abstieg: ca. 1,5 Stunden
Kartenmaterial: Kompass Karte 06, Walchensee, Kochelsee, Sylvensteinstausee 1:25 000
Einkehr: Auf der Tour gibt es keine Einkehrmöglichkeiten, also Brotzeit in den Rucksack packen. Am Walchensee oder in Wallgau finden sich mehrere Einkehrmöglichkeiten.