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Toureninspiration auf dem Klo in Corona-Zeiten

Corona bricht über unser Leben herein und verändert schlagartig alles. Gefangen im Alltag aus Homeschooling, Waschen, Essen ranschaffen und Kochen kommt mir in einer ruhigen Minute auf dem Klo die Idee, wie ich dem ganzen Wahnsinn für kurze Zeit entfliehen kann. Das Nötigste aufs Rad packen und einfach losradeln bis ich am Königssee bin.

Die Flasche fliegt zum xten mal runter. Ich hab aber absolut keine Lust, mein Rad an den Baum zu lehnen, den gesamten Packsack abzuladen, neu zu schichten und wieder auf den Gepäckträger zu schnüren. Jetzt nicht. Also heb ich die Flasche wieder auf und klemm sie unter den Expander, der den Packsack auf meinem Gepäckträger hält. Vielleicht ist das einfach nicht der richtige Weg für mich, nicht heute, nicht unter diesen Umständen.

Mit dem Gravelbike ins Berchtesgadener Land

Ich bin im östlichen Chiemgau, denn ich kann bereits die weißen Gipfelspitzen aus dem Berchtesgadener Land in der Ferne erkennen. Der Weg ist ein feinster Singletrail, der sich über waldigen Boden leicht bergab schlängelt, mit kleinen Wurzeln und Steinen gespickt. Genau nach meinem Gusto. Durch den Laubwald blitzt die Spätnachmittagssonne. Mit dabei sind Kocher, Kochtopf, Schlafsack, Zelt, Ersatzklamotten und einiges mehr. Ordentlich verstaut in zwei Packsäcke, auf einen Vorder- und Hinterradgepäckträger geschnallt. Alles, was man auf einem Singletrail nicht unbedingt mit sich führt. Der Grund dafür ist das Rad. Ich bin mit einem Reiserad unterwegs, neuerdings auch Gravelbike genannt - mit Gepäcktaschen allerdings ohne Ständer.

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Routen-Inspiration auf dem Klo

Nun schiebe ich also mein Rad mit klappernden Kochtöpfen den Trail hinab, in der Hoffnung, dass es wie mein GPS mir andeutet, nicht mehr allzu lange so weitergeht. Denn sonst bekomme ich ein Problem. Ich möchte vor Einbruch der Dunkelheit ankommen.

Lange schon steht das Ziel auf meiner To-Do-To-See Liste, allerdings ganz weit unten, genauer gesagt auf dem letzten Platz. Schuld daran war eigentlich nur das Bild, das mich täglich begrüßt. Umringt von einem dicken goldenen Rahmen glitzert der Königssee auf diesem alten Ölgemälde. Wo dieses Bild herkommt, kann ich gar nicht mehr so genau sagen. Es passt auch eigentlich nicht dorthin. Aber selbst nach vielen Umzügen hat es sich immer wieder einen Platz verschafft. Und so hängt es bei mir auf dem Klo.

Dem Corona-Alltag entfliehen

Ich war jedenfalls noch nie dort, an diesem sagenumwobenen Königssee. Ich träume im Frühjahr von wärmeren Zielen im Süden: Italien, Spanien, Sonne, Meer, Gardasee. Dieses Frühjahr ist aber nicht wie normalerweise. In trauter Viersamkeit verbringen wir unsere Ausgangsbeschränkung zu Hause. Homeschooling, Kochen, Waschen, Einkaufen, Verfüttern bestimmen meinen Alltag. Nach draußen darf ich nur alleine, und nur im eigenen Umkreis. Die Polizei kontrolliert und ermahnt den Landkreis nicht zu verlassen. Meine Ideen werden aus der Not immer kreativer. Mein inneres Ich schreit! Ich muss hier dringend mal raus. Auf der Toilette kommt mir dann die Eingebung. Das Bild. Nicht mit dem Auto, klar. Denn da könnte mich mein Kennzeichen verraten. Ich plane meine Route entlang der deutsch-österreichischen Grenze, möglichst versteckt an den Bergen. Von West nach Ost. So wenig Asphalt wie notwendig , so viel Gravel und Landschaft wie möglich. Hotels sind geschlossen, also nehme ich das Zelt mit. Restaurants und Bars sind verriegelt. Der Kocher muss mit. Von Garmisch an den Königssee will ich. Am Ende ploppt eine Route auf mit 266 Kilometern und 4.700 Höhenmeter. Drei Tage habe ich Zeit. Das sollte eigentlich machbar sein, denn Stress kann ich nicht gebrauchen. Den hab ich zu Hause.

Grenzübertritt nach Österreich

Nach einem Abschiedsbussi von der Familie an diesem frühen Morgen, mache ich mich auf den Weg. Es ist bewölkt, und hat mehrere Tage lang geregnet. Nebelschwaden ziehen über den Geroldsee, und ich spüre die gute frische Luft, angereichert mit etwas, das sich so anfühlt wie Freiheit. Dabei bin ich erst ungefähr eine Stunde von zu Hause entfernt. Ich gewöhne mich allmählich daran, dass das Rad schwerfälliger lenkt als sonst. Dafür rollt es super. Hätte ich nicht gedacht, mit einem Gesamtgewicht von etwas über 22 Kilogramm.

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Der Schotterweg führt mich gen Süden, zur Isar. Ich bin alleine. Niemand ist heute Morgen unterwegs. Irgendwann, ich bin mittlerweile gut zwei Stunden on the road, erscheint auf dem GPS Display einer der rot markierten Punkte auf meiner Route. Rot bedeutet, dass ich beispielsweise nicht ganz sicher bin, ob diese Strecke mit einem Rad machbar ist. Unter normalen Bedingungen wäre dieser Punkt gar nicht so spannend. Aber die Umstände sind in dieser Zeit alles andere als normal. Deshalb ist der Punkt rot markiert: Eine fette Schranke, quer über der Straße, stoppt meinen Fahrfluss. Grenzübergänge sind gesperrt. Auf der anderen Seite erblicke ich ein großes A auf dem Schild und den Grenzstein auf dem Tirol steht. In mir kriecht ein Gefühl von Sehnsucht hoch. Es schnürt mir irgendwie die Kehle zu. So selbstverständlich war es einmal, die Grenze nach Österreich zu überqueren.

An diesem Punkt verläuft meine Route wirklich sehr nahe an der Grenze, um ehrlich zu sein, führt der Weg tatsächlich auf der österreichischen Seite weiter. Ich schaue nach links und rechts, ein bisschen nervös bin ich schon, als ich mein Bike unter der Schranke hindurchschiebe. Aber ich will ja nur ganz kurz durch Tirol, beruhige ich mein Gewissen. Also ganz kurz, nur zu diesem Schotterweg auf der anderen Seite, der mich dann bald wieder zurück nach Bayern bringen sollte. Ein wenig packt mich die Angst. Haben mich die aufgestellten Kameras gefilmt, werde ich nun womöglich verfolgt? Mit diesen Gedanken merke ich nicht mal, dass ich kaum mehr die Kurbel gen Boden zu drücken vermag, so steil ist der Weg.

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Ein Schlafplatz mit Aussicht, kaltes Bier und kochendes Nudelwasser

In nicht allzu weiter Ferne erblicke ich das Schild mit der Aufschrift „Willkommen in Bayern“. Ich atme tief durch. Die romantische Kapelle kommt mir gerade gelegen. Auf der Holzbank davor erhole ich mich erst mal. Zuviel Adrenalin musste mein Körper die letzte halbe Stunde verarbeiten. Meine Semmel von heute morgen schmeckt dreifach gut. Gestärkt mit Essen und Selbstvertrauen rolle ich entspannt an der Weißach entlang bis nach Rottach Egern.

Vor einem Tante Emma Laden mache ich halt. Fast hätte ich vergessen, meinen Mund-Nase-Schutz hochzuziehen, so weit war ich schon vom Alltag entfernt. Hier holt mich Corona wieder ein. Ich decke mich mit Vorrat für das Abendessen ein. Eine längere Passstraße führt mich zu meinem Tagesziel. Oben angekommen, erwartet mich ein einladend aussehender Gasthof. Ich halte an. Auf der Terrasse sitzen zwei vollbärtige Stammtischler an zwei voneinander getrennten Tischen. Sie genießen das letzte Sonnenlicht, das noch zwischen den Berggipfeln durchblitzt. Ein Bier, das wärs jetzt. An der Eingangstüre hängt ein großes weißes Schild: Wegen Corona vorübergehend geschlossen. Ich grüße die beiden bayerischen Originale und frage sie nach einem Platz wo ich mein Nachtlager aufschlagen kann. Überall und nirgendwo murmelt der eine in seinen Bart. Der andere schaut mich etwas mitleidig schmunzelnd an. Als ob er meine Gedanken lesen konnte, holt er aus seinem Rucksack ein Bier raus und überreicht es mir. Dankend nehme ich es an, auch im nicht desinfizierten Zustand. Kurz danach finde ich einen schönen Platz für mein Nachtlager. Ein eiskaltes Bier, ein Zeltplatz vor traumhafter Bergkulisse, der aufgehende Vollmond und brodelndes Nudelwasser auf dem Kocher, für mich gibt es in diesem Moment nichts Schöneres.

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Einsamkeit auf Asphaltstraßen

Die ersten Sonnenstrahlen verwandeln den Rauhreif an den Zeltwänden zu Wassertropfen. Nach der eiskalten Nacht genieße ich die wärmende Morgensonne. Noch ein Espresso und dann schnüre ich meine Packtaschen wieder auf das Bike. Als ich die Passstraße hinunter rolle, überkommt mich wieder dieses Gefühl. Ich könnte laut schreien vor Glück. Die ganzen Sorgen, Ängste und Belastungen der letzten Wochen verfliegen im Fahrtwind. Gegen Mittag treffe ich auf den Asphaltpass. Normalerweise ist das hier um diese Uhr- und Tageszeit eine Motorradhochburg, aber nicht heute. Ausfahrten sind in Zeiten der Ausgangsbeschränkung verboten. An einer kleinen Aussichtsstelle halte ich an, und schiebe einen Müsliriegel nach. Zwei Motorradfahrer haben sich trotzdem rausgetraut und werden mit Einsamkeit und leeren Straßen belohnt, so wie ich auch.

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Mittlerweile sind mein Bike und ich sehr vertraut und ich rausche immer mutiger durch die Kehren, genieße Fahrtwind und Geschwindigkeit. Die Zeit rast dahin, und so auch die Kilometer. Viel zu schnell. Auch die letzte Nacht in meinem kuscheligen Zelt verfliegt. Am nächsten Tag begrüßt mich bereits das Berchtesgadener Land. Es wird wieder rauher und felsiger und in der Ferne strotzen seriöse, schneebedeckte Gipfel. Es ist Frühjahr, die Blumen blühen in allen Farben, das Gras ist bereits saftig grün. Wie immer, auch wenn in diesem Frühjahr doch alles anders ist. Und der Pass auf dem ich mich befinde ist der letzte Pass über den ich noch drüber muss, bevor mich mein Ziel erreiche. Ich erinnere mich, dass bei meiner Routenplanung hier ein kleines rundes Zeichen steht. Es ist braun und bedeutet Schiebestrecke.

Der Königssee - ein Bild von Freiheit

Und so schiebe ich nun meine Kochtöpfe über diesen Traum von Singletrail. Mit einer für mich ungewöhnlichen Geduld hebe ich zum fünften Mal meine Trinkflasche auf, die schon wieder aus der Halterung rutscht. Ich atme den Duft von Laubwald ein. Bald schon taucht eine Almhütte vor mir auf. Ab da geht es schon in die letzte Schotterabfahrt. Das weiss ich, deshalb genieße ich noch ein wenig die wärmende Nachmittagssonne auf der Bank vor der Hütte. Ich will eigentlich weiterfahren, noch viel weiter als mein eigentliches Ziel. Warum muss erst Corona kommen, um zu entdecken, wie schön es eigentlich zu Hause ist, frage ich mich. Ich realisiere, dass sich soviel Freiheit direkt vor der Haustüre erleben lässt.

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Hinter der letzten Kurve taucht er dann auf: Dunkel, tief, mit hohen Berggipfeln umsäumt, und seiner kleinen Insel in der Mitte. Der Königssee. So wie ich ihn von meinem Ölgemälde kenne. Bei einem Bier am Ufer lasse ich meine Füße im eiskalten See baumeln. Nur ganz wenige Menschen tun das Gleiche wie ich. Geschlossene Gaststätten, verbarrikadierte Schiffsanlegestellen und Eisverkäufer mit Mund-Nasen Schutz erinnern mich wieder. Jedes mal wenn mich nun das Bild erblickt, und das tut es täglich, träume ich. Von Freiheit. Und vom Königssee, der vielleicht nie wieder so sein wird, wie ich ihn in dieser speziellen Zeit erleben durfte. Und der auf meiner To-Do-to-See Liste als letzter Punkt viel zu lange stiefmütterlich behandelt wurde.

Fotos: Andreas Vigl

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Karen Eller

Geboren in München, lebt Karen nun seit 10 Jahren in Garmisch Partenkirchen. Als Bikeprofi hat sie mehrmals die Transalp Challenge und das Transrockies in Kanada gewonnen. Schon früh zu Beginn ihrer Mountainbike Karriere widmete Karen sich dem Thema Women on Bike. Bei der Produktentwicklung bei Bikes oder Bekleidung, Karen prägte das weibliche Thema in der Bike Szene. Seit beenden ihrer aktiven Karriere gibt sie auf Mountainbike Camps ihre Erfahrung weiter. Mit der Singletrail Schnitzeljagd im Ötztal organisiert ihre eigene Firma, Die Rasenmäher, einen erfolgreichen Enduroevent. Ist das Gipsy Girl nicht in Garmisch bei ihren beiden Kindern Leni und Lois, ist sie sicher auf Reisen. Egal ob mit Ski oder dem Mountainbike, aber immer auf der Suche nach neuen Abenteuer und neuen Trails. Dabei findet sie ihre Inspiration. Karen ist Buchautorin von „Mountainbiken für Frauen“ und „Mountainbiken für Kids“.

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