Das Stilfserjoch ist mit seinen 2.758 Metern die Königin der Bergpässe. In 48 Kehren schlängelt sich die Straße 25 Kilometer und circa 1.870 Höhenmeter am Berg entlang, mit atemberaubenden Aussichten auf Gletscher und umgebende Gipfel. Einmal im Jahr gehört diese Straße den Radfahrern alleine, motorisierte Fahrzeuge haben Fahrverbot. Der „Stilfser Joch Radtag“ist kein offizielles Rennen, es geht den Veranstaltern einfach nur ums Erleben und Radfahren.
Wie ich aus Verrücktheit zur Teilnehmerin wurde
Vor zwei Jahren hatte mein damaliger Chef die spontane Eingebung, Mitarbeitern vom Radtag zu erzählen und sie zum Event zu motivieren. Hatte er doch schon Jahre zuvor selbst das Stilfser Joch erradelt und die Atmosphäre dort sehr genossen. In einem kurzen Moment der Verrücktheit sagte ich zu.
Erst sechs Monate zuvor wurde ich stolze Besitzerin meines ersten Rennrads. Ich hatte also zum Zeitpunkt der Zusage höchstens 100 Kilometer in meinen noch jungen Radlbeinen. Was ich am Radtag zur Verfügung hatte, waren meine Laufschuhe – ich hatte noch keine Erfahrung mit Klickpedalen, meine Mountainbike-Klamotten – sind ja schließlich auch Radl-Sachen und meine grundsätzliche Fitness.
Ich bin mit einer großen Offenheit zu diesem Event gefahren, weil ich einfach sehen wollte wie weit ich komme. Mindestens 15 Kehren hatte ich mir vorgenommen. Jederzeit habe ich mir die Umkehr als Möglichkeit freigehalten – und es sollte dann doch anders kommen.
Will ich das wirklich tun?!? Hell yes!
Die ersten paar Höhenmeter auf den Berg zu radelnd konnte ich sehr genießen. Ein ungewohntes Erlebnis – so viele andere Radfahrer, alle gut gelaunt und fröhlich. Ich spürte keine Kampfstimmung und kein Konkurrenzgefühl, wie ich es mir bei einem Rennen gut vorstellen kann.
Es war ein sehr heißer Sommertag mit strahlend blauem Himmel und die Umgebung war einfach unbeschreiblich schön. In Kehre 15 – bis hier hin wollte ich es unbedingt schaffen – gab es keinen Grund für mich umzudrehen. Das hat mich sehr erstaunt. Meinem Körper ging es prima, also weiter.
In Kehre 31 realisierte ich, dass ich tatsächlich die Chance habe, den Gipfel zu erreichen. Ich konzentrierte mich stur aufs Pedalieren. Eine Umdrehung nach der anderen, von Kehre zu Kehre.
Die letzten, harten Kehren
Die letzten zehn Kehren waren die härtesten. Das hätte ich nicht erwartet. Du radelst aus dem Wald heraus und siehst den Gipfel, und all’ die Kehren darunter, die du noch bezwingen musst. Eine extreme Herausforderung für den Kopf, auch wenn der Körper dazu gut in der Lage ist. Mein unterer Rücken war die Anstrengung und lange Sitzhaltung nicht gewohnt und schmerzte. Ich versuchte mich während des Radelns zu stretchen. Ich wollte nicht aufgeben. Das Ziel war so nah!
Dann erreichte ich tatsächlich den Gipfel: in zwei Stunden und 56 Minuten. Ein Drittel der knapp 9.000 Teilnehmer gab unterwegs auf. Ich nicht und ich habe mich großartig gefühlt.
Christines Tipps
1. Setz’ dir hohe Ziele!
Warum zurückhaltend sein? Warum nicht sofort das Große anstreben? Warum kleine Ziele setzen auf der langen Gerade zum Erfolg, um diese über Jahre hinweg mühsam Schritt für Schritt zu erreichen? Warum haben wir erst dann den Mut, etwas Größeres zu wagen?
Meiner Erfahrung nach brauchst du lediglich eine grundsätzlich gute Fitness, eine gute Portion Willenskraft und Neugierde darauf, wie es ist, eine Passhöhe zu bezwingen. Das war’s auch schon!
2. Auf was wartest du?
Ich verstehe immer noch nicht, warum man Zehn-Jahres-Ziele in zehn Jahren erreichen muss. Warum nicht in zwei, wenn es möglich ist?! Ich glaube, viele von uns verschieben ihre Träume auf unbestimmte Zeit, weil sie Angst davor haben, diese zu erreichen – und nicht, weil sie zu unsportlich sind. (Sollte das der Fall sein, ist Verschieben natürlich die schlauere Option.)
Wenn sich Träume früher erfüllen könnten, macht uns das unsicher und schüchtern. Wenn du dir dessen aber bewusst bist und es trotzdem ausprobierst – garantiere ich dir 100 prozentig pures Glück. Es wird der Anfang einer großartigen Zeit werden.
3. Bring’ eine große Portion Freude mit!
Es macht einen großen Unterschied, ob du verbissen in so ein Event gehst oder offen, neugierig und mit entspanntem Kopf. Du musst niemandem etwas beweisen, es ist kein Rennen um einen Sieg. An diesem Tag kannst du ohne störende Autos und rasende Motorradfahrer eine wunderbare Passstraße fahren – mit vielen Gleichgesinnten, die alle gut gelaunt sind. Erlaube es dir, einen außergewöhnlichen Tag zu erleben – egal wie weit es für dich geht.
4. Niemanden interessiert es, wenn du es nicht schaffst.
Alle Teilnehmer kämpfen an diesem Tag gegen ihre eigenen, inneren Gegenspieler. Niemand wird merken, wenn du umkehrst. Und selbst wenn, es interessiert niemanden! Jeder hat nur sich selbst im Kopf. Also konzentriere dich auf dich und deinen Körper, der Rest ergibt sich dann.
5. Du brauchst keine fancy Bike-Klamotten!
Wie du auf den Bildern sehen kannst: Ich trage keine fancy Rennrad-Klamotten, keinen schnittigen Helm, stattdessen – wie ich heute weiß – die schlechteste Radlhose überhaupt, meine Laufschuhe und einen Wanderrucksack. Klar, so wirst du nicht als neues Rennrad-Model abgelichtet – aber darum geht es schließlich auch nicht. Schöne Klamotten sind keine Bedingung für einen großartigen Tag draußen in der Natur und sie helfen dir bei deiner sportlichen Leistung sowieso nicht. Zwei Jahre später bin ich das Stilfser Joch übrigens erneut geradelt. In hübschen Klamotten, mit Klickpedalen und entsprechenden Radlschuhen. Ich habe zwei Stunden und 41 Minuten gebraucht. Die 20 Minuten Verbesserung sind dabei garantiert nicht dem Outfit geschuldet sondern meinem Wintertraining auf der Rolle.