Happy, happy Schlüpftag to me..., singe ich klammheimlich während ich meinen Flughafen-Kopfwehwein ins Glas schenke. Ich feiere meinen Geburtstag spät in der Nacht alleine an einem gottverlassenen Terminal irgendwo im hintersten Winkel des Münchner Flughafen. „Cheers!“, ich nehme einen großen Schluck. „Pfui, der ist noch viel schlechter als erwartet,“ denke ich mir, während die Tannine mir die Spucke aus den Drüsen ziehen. Ich liebäugle mit einer zweiten Flasche dieses verbesserungswürdigen, aber sehr effektiven Geburtstagsnektar. Doch es ist Zeit fürs Boarding.
Welcome! Welcome!
Nach den russischen Sicherheitshinweisen, einer Tiefschlafphase am Moskauer Flughafen, einem weiteren nicht alkoholisierten Flug, komme ich irgendwann in Mineralnyje Wody im Nordkaukasus an. Es ist ein überraschend heißer Maitag und irgendwie scheint mir die Sonne hier heller zu scheinen. Es könnte aber auch am Schlafmangel liegen. Mit meinem Skigepäck im Schlepptau laufe ich auf einen Mann zu. Er hält ein weißes Schild vor sich auf dem, wie ich annehme, „Vreni“ steht. Er spricht weder Englisch, noch Französisch oder Deutsch. Er schüttelt meine Hand und sagt: „Добро пожаловать, добро пожаловать!“ Ein Blick in mein Wörterbuch verrät mir, dass es „Herzlich Willkommen“ heißt. Er deutet auf ein kleines, weißes Auto. Meine Skitasche befestigt er schnaufend am Dach. Meine Hilfe ist dabei vehement nicht erwünscht.
Wir beherrschen zwar keine gemeinsame Sprache, aber wir sind Besitzer von intelligenter Technik. Google Translate leistet amüsierende Übersetzungen. Und so fahren wir in dem kleinen, weißen Auto mit der großen, schwarzen Tasche am Dach vorbei an kreativ-politischen Vladimir Putin Plakaten, passieren unzählige Polizeikontrollen und ehemalige kommunistische Bergbaudörfer mit frischen Erdbeeren und heißem Kaffee. Immer weiter Richtung Berge. Nach über vier Stunden kommen wir in dem winzig kleinen Skidörfchen Azau an. Hotels säumen die unbefestigte, steile Straße an der Grenze des russischen Kaukasus zu Georgien. Es ist ein grau-brauner architektonischer Brei mit bunt gekleideten Touristen und Bergsteigern. „Vreeeeni!“, sagt ein großer Mann mit russischem Akzent und offenen Armen. „My name is Viktor. Welcome! Welcome!“, sagt er immer wieder während er energisch meinen ganzen Arm schüttelt. „Follow me. Follow me!“
So high
Innerhalb der vergangenen 24 Stunden bin ich von Österreich nach Russland geflogen, begrüßte meinen lieben Auftraggeber Rudi von der Alpinschule Augsburg herzlich, lernte den Rest der Crew kennen und folgte kleinen roten Fähnchen zu den Pastuchow-Felsen auf 4.800 Metern. Während wir uns am köstlichen Abendessen laben, zweifle ich mehr und mehr an meiner Zurechnungsfähigkeit. Mein Gehirn wabbelt lose in meinem Schädel herum, meine Feinmotorik ist die eines dreijährigen Kindes, aber verdammt bin ich gut drauf! Waren da... nein, da waren keine grünen Kräuter auf meinem Porridge. Mit erhobenem Finger und breitem Grinsen diagnostiziere ich lauthals in unsere Gruppe: „Ich bin höhenkrank!“ Verdutzt sieht mich der Tisch an. Mein Kichern verleiht mir nicht gerade Seriosität. Der Guide stellt mir ein paar Fragen und stimmt mit mir überein. Wer hätte gedacht, dass Höhenkrankheit high macht?! Aber lieber so, als anders. Unfassbar dieser (Höhen)Rausch. Eine Skitour vom Dörfchen Azau auf 2.500 Metern bis zum Base Camp auf auf 3.800 Metern bringt mein Wabbelhirn wieder in gewohnte Stellung. Rausch (leider) beendet.
Beer o’clock
Der Kaukasus ist nicht unbedingt für ausgiebige Sonnenstunden bekannt. Seit sechs Tagen sind wir im Base Camp mit wirklich beschissenem Wetter. Noch kein einziges Mal habe ich die Berge gesehen. Eine korrekte Akklimatisierung ist fast unmöglich bei Windgeschwindigkeiten von 70 Kilometern pro Stunde und mehr. Der Strom fällt aus und so bleiben wir in unseren Schlafsäcken im Container. Nachdem alle guten und schlechten Witze erzählt sind, bleibt uns nur noch eines: Bier! Nur wie? Die Türe ist komplett vereist und lässt sich nicht öffnen. Es gibt nur eine Möglichkeit: das Fenster. Wortlos schauen mich die beiden Mannsbilder an. Eine Verhandlung ist zwecklos... Also ziehe ich alle (wirklich alle!) Schichten an, während die Jungs vorsichtig das Eis mit den Eisgeräten vom Fenster klopfen. Mit unbeschreiblicher, ums genau zu nehmen nicht existenter, Grazie verbiege ich mich durch das Fenster. Inmitten des Schneesturms, irgendwo zwischen den Containern, finde ich den Administrator, quasi der Hausmeister des Camps. Im trunkenen Zustand versucht er die Container vom meterhohen Schnee zu befreien. Eine Sisyphus-Arbeit. Er ist der festen Überzeugung, dass ich Russin bin. Er gibt mir zu verstehen, ihm zu folgen.
Da sitze ich nun in einem beheizten Container und erkläre drei betrunkenen Russen verbal und non verbal, dass ich Bier kaufen möchte. Nach einer mir bis heute unverständlichen Diskussion untereinander, schieben sie mich mit fünf halben Flaschen Bier hinaus in den Sturm und schlagen die Containertür hinter mir zu. Im knietiefen Schnee stapfe ich zurück zu unserem Container. Das Fenster ist mittlerweile zu weit oben, der Wind hat den ganzen Schnee verblasen. Aber nach zwanzigminütiger Bearbeitung der Tür von beiden Seiten mit Schaufel, Eisgeräten und Feuer lässt sie sich öffnen. Zum Wohle!
Ice, ice baby
Es ist still. Langsam wache ich auf. Es ist so wohltuend warm. Draußen ist es noch stockfinster. Behutsam fummeln meine schlaftrunkenen Finger die Ohrenstöpsel heraus. Naaahhhh! Es ist gar nicht still, der Sturm wütet lauter und wilder, als jemals zuvor. Wortlos schälen wir uns aus den Schlafsäcken, ziehen unsere gewohnten Schichten an und laufen vornübergebeugt mit den Kapuzen tief ins Gesicht gezogen im Gänsemarsch zum Essenscontainer. Mittlerweile haben wir ein wenig Orientierung im Camp, selbst dann, wenn wir die eigenen Füße nicht sehen. Still zitternd sitzen wir vor unserem Frühstück. Die Hände umschlingen die wohltuende Wärme der Kaffeetasse. Seit drei Tagen zwingt uns das Wetter still zu sitzen. Seit drei Tagen lässt uns das Wetter keine Wahl. Heute ist der vorletzte Tag und morgen soll das Wetter gut werden. Nur minus 27 Grad und Wind um die 35 Kilometer pro Stunde. Frühling im Kaukasus. Werner, der Guide einer anderen Gruppe, ist auch schon wach und gesellt sich zu uns Dreien. Er sieht unser Unbehagen, unseren Drang. Bevor wir irgendwas sagen können, rät er uns ab. Wir nicken, packen unser Zeug und laufen los.
Die Schneekristalle sind winzig kleine Eisgeschosse. Die Kälte kriecht durch alle Daunen- und Membran-Schichten. Der Wind ist ein erbarmungsloser Gegner. Mit meinem ganzen Gewicht lehne ich mich gegen ihn, aber es genügt nicht. Die Jungs nehmen mich in ihren Windschatten. Auf schätzungsweise 4.500 Metern reicht es mir. Die feuchte Kälte ist bis in meinen Kern vorgedrungen. Das Gefühl in meinen Fingern und Zehen ist fast vollends erloschen. Ich muss abfahren. Die Zwei wollen weiter. Mit steifen weißen Fingern krame ich die Kamera hervor und schieße ein paar Fotos bevor das Weiß die Beiden verschluckt. Da stehe ich alleine auf der Flanke des Elbrus in einem Schneesturm. Ein wirklich wilder Schneesturm. Nur der Sturm und ich. Ich könnte nicht glücklicher sein.
Jetzt heißt es nach Gefühl fahren. Wenn man nichts mehr sieht, muss man sich erinnern und fühlen, wo es bergauf und bergab geht, wo es nach links und nach rechts geht. Und wenn ich mir doch nicht so sicher bin, dann folge ich den wenigen roten Fähnchen, die noch vom Elbrus Race übrig sind, oder den braun-gelben Pyramiden, die die Läufer hinterlassen haben. Nach kurzer Zeit kommen auch die Jungs im Base Camp an. Der Sturm sei noch stärker geworden. Still sitzen wir wieder beisammen und trinken Tee. Entweder morgen oder überhaupt nicht.
Ein großer weißer Busenberg: Elbrus
Am späten Nachmittag reißt der Himmel auf. Zum ersten Mal sehe ich den Elbrus. Erwachsen und reif, wie ich bin, erinnert er mich sofort an einen Busen. Ein großer weißer Busenberg! Der größte Busenberg Europas!
Mein Blick wandert mit dem Licht über den Gletscher nach Georgien. Ein pornöser Powderhang folgt dem anderen. Ohne Genehmigung unmöglich. Angeblich hat ein Guide dort deshalb schon einige Tage hinter Gittern verbringen müssen. Die politische Situation im Kaukasus ist gespannt. Meine Augen folgen dem Sonnenfenster von Georgien zurück ins russische Base Camp und weiter Richtung Süden. Ich blinzle ungläubig. „Hooolllyyyy fuck!“ Meine Augen füllen sich mit Tränen. Das ist bestimmt die Kälte.... „Ushba“, sagt eine Stimme hinter mir. „Ushba...“ flüstere ich leise während ich ein Foto schieße. „Ushba. Ich liebe dich!“ Das Wolkenmeer hüllt ihn wieder ein. Ushba... you sexy little thing. Du bist jetzt auf meiner Liste.
Verf****** Sch***wind!
Ein entferntes Piepsen weckt mich. Es ist zehn vor zwei. Das bedeutet Gipfel-Busen-Tag! Ich setze mich auf und versuche Leben in Körper und Geist zu hauchen. Um zwei Uhr gibt es Frühstück, um kurz nach halb drei laufen wir in die Schwärze der Nacht. Drei kleine Lichtkegel laufen nebeneinander auf 3.800 Metern los. Die Freude lässt uns etwas zu schnell gehen... „Sachte, sachte...“, sage ich mir selbst. Es liegen noch mehr als 1.600 Höhenmeter vor dir. Die ersten Sonnenstrahlen baden die Gipfel in pinkem Licht. Sexy Ushba zwinkert mir zu. Zumindest hätte ich das gerne. Mit der Sonne kommt auch der Wind. Gott sei Dank! Ich habe ihn schon fast vermisst. Eine Hand voll Bergsteiger läuft mit uns vom Base Camp los, während sich der Rest mit der Pistenraupe auf 5.000 Meter bringen lässt. Am Ende der Pastuchow-Felsen trifft uns der Wind mit seiner vollen Wucht. Das blanke Eis leuchtet durch den vorbeiwehenden Schnee. Es ist Zeit für die Steigeisen. Die Ski werden am Rucksack festgezurrt und weiter geht es. An unzähligen Gruppen vorbei immer weiter Richtung Gipfel und immer stärker gegen den Wind. Am Elbrussattel findet unsere Gruppe wieder zusammen. Ich friere erbärmlich und meine Zehen sind komplett gefühlslos. So langsam aber sicher habe ich genug von diesem Hügel! Es sind nur noch ein paar hundert Höhenmeter. Ich fluche. Ich verfluche diesen Berg mit seinem verf****** Wind, seinen Pisspyramiden und seinem sch*** langen flachen Weg. Das ist noch die jugendfreie Version.
Das Gefühl, zu Hause zu sein.
Nach sechs Stunden und dreißig Minuten schlottern und den letzten paar hundert Höhenmetern fluchen, stehe ich am höchsten Gipfel Europas. Einfach so. Irgendwie ist das dann doch zu schnell gegangen... Wir fahren die eisige Flanke vom Gipfel bis zum Base Camp ab. Packen unsere Sachen und zelebrieren unseren Erfolg mit russischem Wodka und georgischem Schnaps in Azau. In einem ruhigen Moment beobachte ich unsere Gruppe und lasse den Tag Revue passieren. Egal wie hoch ein Berg ist und ob ich es bis zu seinem Gipfel schaffe oder nicht, ich empfinde immer das gleiche: tiefste Zufriedenheit und das Gefühl, zu Hause zu sein.