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Ein Leben wie ein Singletrail

Plötzliche Richtungswechsel in zackigen Spitzkehren, zwischen den Bäumen die Zukunft blitzen sehen, sich vom Flow durch die Kurven tragen lassen, darauf vertrauen, dass sie einen nicht aus der Bahn werfen. Das Leben von Ernesto Hutmacher gleicht einem Singletrail. Outville hat die Bikelegende getroffen.

Ernesto heißt eigentlich Ernst. Und auch wenn sein wohl gebräunter Teint ihn durchaus als Südländer durchgehen ließe, ist er kein Italiener, sondern Schweizer. Geboren in der Nähe von Zürich, aufgewachsen als armer Bauernsohn. Als Ernst elf Jahre alt ist, stirbt seine Mutter an Krebs, sein Vater heiratet eine Frau, die Ernst heute als böse Stiefmutter bezeichnet. In seiner Ausbildung zum Automechaniker findet er keine Freunde. „In der Schule wurde ich als Bauernsohn gemobbt. Morgens im Stall arbeiten, dann stinkend in die Schule gehen, nachmittags arbeiten, abends arbeiten. Schulaufgaben nach der Stallarbeit. Immer nur Arbeit – keine Freizeit.“

Vom Außenseiter in die Formel 1

Doch plötzlich hat Ernst einen Mentor. Es ist ein Lehrer, der ihn motiviert und ihm Mut macht. „Er hat gesagt: Ernst, du kannst viel mehr als du zeigst. Ich habe ihm vertraut. Am Ende der Lehrzeit hatte ich die besten Noten im ganzen Kanton Zürich.“ Diese Noten ermöglichen es Ernst, nach seinem Abschluss als Mechaniker in einem Formel 1 Team zu arbeiten und um die Welt zu reisen. Doch schon bald kommt der nächste Schicksalsschlag. „Mein Idol der Formel 1 Fahrer Joseph Siffert ist bei einem Unfall ums Leben gekommen. Als er starb, wusste ich: Ich muss sein Erbe übernehmen. Ich werde Rennfahrer.“ Ein Bauchgefühl, ein Traum, den Ernst Realität werden lässt. Bald sitzt er selbst im Rennwagen, fährt mit Keke, dem Vater von Nico Rosberg.

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Doch eine Frau stellt Ernst vor die Wahl: entweder der gefährliche Sport oder ich. Ernst entscheidet sich aus Liebe gegen den Rennsport und wird Computerfachmann. Seinen Geschwindigkeitshunger stillt er bald auf dem Rennrad und fährt erfolgreich Bahnrad und Straßenrennen.

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Es hätte ewig so weitergehen können, wären nicht diese Visionen gekommen: Als Ernst eines Tages von der Arbeit nach Hause kommt, sieht er seinen Bruder bewusstlos im Heu liegen. Zwei Tage später findet man ihn tatsächlich dort. Ernsts Visionen gehen weiter und schlimmer: Sie werden wahr – sogar der vorausgesehene Tod seines Bruders. „Ich bekam Angst. Warum hab’ ich das? Ich wusste vorher nicht, dass es so etwas gibt. Ich war erfolgreich, bin Formel 1 Fahrer gewesen, wollte Karriere machen. Visionen waren kein Thema für mich, das war etwas für andere.“

Vom Computerfachmann zum Hotelbesitzer

Ernst ist kein religiöser Mensch, nicht mal als spirituell würde er sich bezeichnen, aber seine Visionen gehen weiter, auch als sein Bruder längst beerdigt ist. Mitte der 80er Jahre arbeitet er in Zürich in einer leitenden Position. Eines Tages schaut er aus dem Fenster, beschließt urplötzlich in die Toskana zu gehen und dort ein Hotel zu eröffnen. „Ich war vorher noch nie südlicher als Genua. Ich konnte kein Wort italienisch. Aber ich wusste genau, wo dieser Ort ist. Ich habe den Berg gesehen, die kleine Stadt, das Anwesen. Ich habe Massa Vecchia vor meinem geistigen Auge gesehen.“ Er fährt in die Toskana, findet über eine Agentur das von Hühnern und Hunden bewohnte, verfallene Landgut am Fuße des mittelalterlichen Städtchens Massa Marittima. Aus Ernst wird Ernesto.

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Ernesto renoviert Massa Vecchia und eröffnet ein halbes Jahr später die ersten zehn Zimmer. Heute nach 32 Jahren sind es 42 Zimmer in einem wahrhaftigen Bike-Resort, das unter Mountainbikern und Rennradfans Kultstatus erlangt hat. „Massa Vecchia ist eine Oase, in der man Gleichgesinnte trifft. Es ist einfach und eng. Und trotzdem habe ich hier eine Auslastung, von der andere träumen. Weil wir etwas leben, das echt ist – nachhaltig und leidenschaftlich. Ich lebe es, meine Kinder leben es, meine Angestellten und auch meine Gäste leben es.“

Von Ernesto zu Arianna und Alice

Seine Kinder – das sind Ernestos Töchter Arianna (30) und Alice (28), die langsam die Zügel in Massa Vecchia übernehmen, was Ernesto freut und ihm gleichzeitig schwer fällt. Lässt ihn doch sein Instinkt, sein Bauchgefühl schnell erkennen, was richtig und was falsch ist. Trotzdem muss er seine Töchter ihre eigenen Fehler machen lassen. Es laufen lassen, ohne es aus dem Ruder laufen zu lassen. Dabei ist er oft sehr streng und es ist nicht immer einfach, wie Arianna und Alice mit einem Lächeln erzählen. „Er ist ein besonderer, ein spezieller Mensch. Ein Vorbild, das uns gezeigt hat, wie man mit dem Herzen lebt. Es gibt nicht so viele Menschen, die so für ihren Traum kämpfen. Wir haben ihn noch nie sagen hören: Nein, heute mag ich nicht. Er ist immer positiv. Er hat immer Power. Er ist die Seele von Massa Vecchia.“

Ernesto ist nicht müde. Er hat den Kopf noch immer voller Ideen, die Manchen zu innovativ sind. „Manchmal fragen sich Arianna und ich, was er für einen Kopf hat, wie kann er so viel denken? Woher kommen all die neuen Ideen?“ Ernesto bringt das Thema E-Bike nach vorne, um mehr Menschen fürs Biken zu begeistern, baut Trails in Griechenland, um den Tourismus in dem von der Flüchtlingskrise getroffen Land zu unterstützen und hat auch immer noch genug Kraft in den Oberschenkeln: „Wenn ich Fahrrad fahre, dann bin ich jung. Dann spiele ich mit dem Bike und mit dem Gelände. Es ist ein Reichtum alt zu sein. Ich muss nichts mehr beweisen. Jetzt ist meine schönste Lebenszeit. Ich gebe Vollgas bis zum Schluss.“

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Und wenn dieser Schluss käme, dann wäre es für Ernesto total in Ordnung. Zweimal hat ihn die Gesundheit schon gezwungen, über den Tod nachzudenken. Er hat sich damals ein Plätzchen in einer Kurve des Massa Vecchia Pumptracks als letzte Ruhestätte ausgesucht. Ein Olivenbaum soll dann über ihn wachen. Manchmal wenn er Richtung Pumptrack schaut, wundere er sich selbst, warum der Baum noch nicht dastehe, erzählt er und lacht. „Du hältst mich jetzt bestimmt für komplett verrückt“, sagt er.

Nein, nicht für verrückt, sondern für ziemlich mutig: Es nicht so zu machen, wie alle anderen. Auf sein Gefühl zu hören, auch wenn der Kopf etwas anderes rät, auch wenn einen alle auslachen. Vor allem aber: Nicht immer zu zweifeln, sondern einfach zu machen. Oder wie Ernesto es sagen würde: „Viele Menschen spüren so etwas wie ich damals, nur haben den Mut nicht, weil die Gesellschaft das nicht akzeptiert. Wenn du dich selbst wahrnimmst, dir anschaust, was du machst, was du machen könntest, was du machen willst und begreifst, dass das Leben nicht nur da ist, um es abzusitzen, dann kannst du deine Fähigkeiten zu Tag fördern. Es muss nicht jeder in die Toskana fahren und ein Haus kaufen. Es können auch kleine Dinge sein, die nicht so wichtig sind nach außen – aber für dich. Ich habe aufgehört mich zu fragen, warum ich so bin. Ich lebe es einfach.“

Mehr über Ernestos legendäres Bike-Resort Massa Vecchia in der Toskana erfahrt ihr hier.

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