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Outville Symphonie on Skis Titel

Auf den Spuren des Vaters

Gottlieb Braun-Elwert war Atomphysiker, Bergführer und Auswanderer. 1985 durchquerte er mit zwei Freunden in einem 18-Stunden-Gewaltmarsch die Südalpen seiner neuen Heimat Neuseeland. Er nannte seine Alpenüberquerung „Symphony on Skis“. Drei Jahrzehnte später folgen seine Töchter Elke und Carla den Spuren des 2008 gestorbenen Vaters.

1985: Gorbatschow wird Generalsekretär der KPdSU, Joschka Fischer erster Umweltminister in Turnschuhen und das Greenpeace-Schiff „Rainbow Warrior“ von französischen Geheimagenten im Hafen von Auckland versenkt. Und keine 900 Kilometer südlich der neuseeländischen Hauptstadt – in einem 300-Seelen-Dorf namens Lake Tekapo – bricht 1985 ein braungebrannter, vollbärtiger, drahtiger Bergführer zu einer denkwürdigen Skitour auf. Sein Name: Gottlieb Braun-Elwert.

Gottlieb Braun-Elwert klingt nicht wirklich neuseeländisch. Er stammt aus Marburg, studiert in München Atomphysik und absolviert während seines Studiums die Bergführerausbildung. Aber wie kommt ein junger Alpinist und Atomphysiker von Hessen aus ans schönste Ende der Welt? Wie im Film – aus Liebe! Der junge Gottlieb wird 1977 von seinem Prof nach Auckland geschickt, und besteigt bei der Gelegenheit gleich einen Nachbargipfel des Mount Cook. Mit von der Partie ist John, ein junger Neuseeländer. Dessen Schwester Anne studiert Deutsch und Französisch und will nach Deutschland, kennt aber niemanden dort. Also organisiert Gottlieb der unbekannten Schwester seines Bergkameraden einen Studentenjob. Zehn Monate später sind Anne und Gottlieb verlobt.

Dann geht alles recht flott: 1979 wandert er aus, 1980 gründet er seine eigene Bergschule. 1983 erblickt Elke das Licht der Welt, 1984 Carla. Und 1985 „komponiert“ Braun-Elwert seine „Symphony on Skis“ – die erste Skidurchquerung der Südlichen Alpen Neuseelands.

„Eine große Skihochtour ist wie ein gut komponiertes Musikstück: Es fließt in Harmonie, überrascht mit Unerwartetem, berührt alle deine Gefühle. Und am Ende bleibt eine Melodie, die du nie vergisst. Gute Musik braucht aber Spieler, die ihr Instrument virtuos beherrschen.“ Gottlieb Braun-Elwert

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Allegro

Symphony on Skis. So nennt der damals 36-jährige Bergführer seinen Traum: Er will die Southern Alps überqueren. Mit Tourenski. Auf einer Route, die er in jahrelanger Tüftelarbeit komponiert hatte: Von daheim in Lake Tekapo, wo er mit seiner Frau und den beiden Töchtern lebt, will er über fünf der größten Gletscher Neuseelands und über vier hohe Pässe bis fast hinunter zur Tasmanischen See. In nur einem Tag.

Braun-Elwert will herausfinden, ob er sein Alpencrossprojekt von Sonnenaufgang bis -untergang durchziehen kann. Er muss, denn unterwegs gibt es so gut wie keine Notunterkünfte noch Notausgänge – also keinen Plan B. Und zuhause am Lake Tekapo warten drei Mädels, die ihn am nächsten Tag gesund und munter zurück erwarten. Aber er ist in diesem Winter anno ’85 in der Form seines Lebens. Und hat zwei starke Bergkameraden an seiner Seite: Franz Waibl, ein Allgäuer und ebenfalls nach Neuseeland ausgewandert. Und Daniel Frey, ein Rucksacktourist aus der Schweiz, der zufällig zu den beiden Profis dazustößt und unbedingt mit will. Daniel ist Raucher, was Gottlieb gar nicht gefällt. Sie machen einen Kuhhandel: Wenn Daniel mit dem Rauchen aufhört, darf er mit.

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Scherzo

In der Nacht des 14. September 1985 geht’s los. Im hektischen Licht der Stirnlampen steigen die drei in sternklarer und eiskalter Nacht von der winzigen Rankin-Hütte hinauf zum Armadillo Saddle. Franz führt einen Tick zu schnell, Gottlieb kämpft mit Krämpfen, eine Stirnlampe haucht den Geist aus, Felle wollen nicht kleben, ein gefrorener Wasserfall muss mit Steigeisenhilfe überwunden werden – für Gottlieb und seine Freunde Tagesgeschäft. Aber immer noch mitten in der Samstagsnacht.

Oben am ersten Pass glänzen dann am Horizont die ersten Strahlen des neuen Tags. Die drei fellen ab und tasten sich mit ihren schmalen Spaghetti-Ski vorsichtig ein steiles Couloir hinab, um dann zum gewaltigen Murchison Glacier hinauszuwedeln. Frühstück! Tee mit Honig und ein halbes Sandwich. Für mehr bleibt keine Zeit. Fünf Steilaufschwünge und achthundert Höhenmeter später stehen sie auf dem Tasman Saddle. Halbzeit!

Von hier oben, 2.400 Meter über dem Pazifik, fließt der Tasman Glacier fast 30 Kilometer weit in Richtung Mount Cook. Hier geht’s runter. Aber nach gut der Hälfte heißt es für Gottlieb & Co.: wieder mal anfellen! Der härteste Anstieg des Tages, gut 1.400 Höhenmeter, steht bevor. Die letzten 600 Meter kämpfen sich die drei mal über hartgefrorenes Eis, mal durch bodenlosen Tiefschnee hoch zur Main Divide, dem Hauptkamm der Südlichen Alpen. Jetzt am Nachmittag wird es mit jeder Minute wärmer. Und gefährlicher. Dann stehen sie oben auf dem Graham Saddle. Gottlieb nennt ihn scherzhaft „Col Collapse“. In der Ferne glitzert die Tasmanische See im Abendlicht.

Aber Gottlieb, Franz und Daniel liegen drei Stunden hinter dem Zeitplan. Und in drei Stunden geht die Sonne unter... Wolken verhöhnen den Wunsch nach einer mondhellen Abfahrt. Aber sie schaffen es im letzten Tageslicht irgendwie auf den Newton Pass. Kurze Pause und dann nur noch bergab! Hellwach, aber wie in Trance schießen die drei an unendlich tiefen Spalten vorbei. Am Ende fährt Gottlieb immer wieder einbeinig, um das andere Bein zu entspannen. Ein finales Crescendo, dann schwingen sie an der Chancellor Hut ab. Gottliebs Sinfonie ist vollendet.

Andante

Er stirbt an einem Donnerstagnachmittag. An diesem 14. August 2008 führt Gottlieb Braun-Elwert eine seiner liebsten Gäste, die neuseeländische Ministerpräsidentin Helen Clark, durch „seine“ Two Thumb Range oberhalb von Lake Tekapo. Auf der Hütte angekommen, scherzt er noch mit anderen Skitourengehern. Sagt zu Helen: „Geh schon mal vor in die Hütte!“ Dann platzt die Aorta.

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Vivace

Gottliebs Töchter sind heute 35 und 34. Elke ist Bergführerin, Carla Dokumentarfilmerin. Die Ältere lebt in Lake Tekapo und führt das Bergschulerbe des Vaters weiter. Die Jüngere ist die Rastlose: Nach dem Tod des Vaters („Studier was du willst, Hauptsache, du studierst mit Begeisterung!“) schloss sie ihr Studium in Naturfilmherstellung in Neuseeland ab, arbeitete vier Winter als Skilehrerin in Adelboden, war drei Jahre lang Cutterin bei einer Filmfirma in Deutschland, zog von 2014 bis 2017 wieder nach Neuseeland – und lebt heute wieder in der Nähe von München. „Ich liebe dieses Pendeln zwischen den Welten“, erzählt die Deutsch-Neuseeländerin. „Ich wollte schon immer einen Bergfilm machen. Und einen Film über meinen Vater.“

Dieser Traum verfolgt sie seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr. Seit ihr Vater sie und ihre Schwester im Jahr 2000 mit auf die Originaltour nahm. Ursprünglich sollte es eine regelrechte Familien-Skitour werden: Gottlieb mit Elke und Carla. Franz mit seiner Tochter Gina. Der Traum einer Sinfonie mit Jungmusikerinnen blieb unvollendet. Denn Franz starb bei einem Bergunfall im Jahr 2000. Einen Monat, bevor sie ihre Sinfonie gemeinsam neu aufführen wollten. Tief geschockt unternahm Gottlieb noch im gleichen Jahr eine Erinnerungstour zum Gedenken an seinen toten Freund. Mit dabei: Elke und Carla. Die eine 16, die andere 15 Jahre jung. Franz’ Tochter Gina kam nicht mit. Statt 18 Stunden ließen sie sich für die Gedächtnistour drei Tage Zeit.

Carla erinnert sich auch 18 Jahre später noch an jedes Detail von damals: an den gebrochenen Ski ihrer Schwester. An ihren Papa, der unendliche drei Minuten lang eine Blume filmen konnte. An das Dreierstockbett in der übervollen Tasman Saddle Hütte, in dem sie ganz oben geschlafen hatte. „Weil es da oben am wärmsten war – und ich die beste Aussicht hatte.“ Eine Tour zwischen Kindheit und Erwachsensein.

September 2015. Sieben Jahre nach dem Tod des Vaters schwingen Carla und ihre große Schwester Elke an der Chancellor Hut ab. Genau an der Hütte, an der Gottlieb 30 Jahre zuvor mit seinen Freunden Franz und Daniel die letzten Noten seiner eigenen Sinfonie im Orchesterwerk des Skialpinismus komponiert hatte. Damals waren die Mädels zwei und ein Jahr alt. Heute sind sie erwachsene Frauen, die den Spuren ihres Vaters folgen. Nicht nur den längst zugewehten Spuren quer über die Southern Alps. „Diese Tour zu wiederholen, ist, wie alte Freunde wiederzusehen. Man hört fast die Stimmen von damals“, sagt Carla. Einer der Lieblingssprüche ihres Vaters: „Was sieht man vom Gipfel aus? Den nächsten!“ Der Film, den Carla über Jahre erträumt und nun vollendet hat, ließ ihren eigenen Traum wahr werden. Sein Titel: Symphony on Skis. Ihr Vater hat ihn nie sehen dürfen. Aber eines ist sicher: Er wäre stolz auf seine Töchter.

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