Mittlerweile fahren wir schon seit Stunden mit dem Auto durch die grüne Hügellandschaft des Piemonts. Herrschaftliche Anwesen gesäumt von Pappel-Alleen ziehen an uns vorbei, kleine Ortschaften mit Wegweisern zu namhaften Weingütern begleiten uns. Hier sind die drei großen Bs der Weinkultur zuhause – der Barolo, der Barbaresco und der Barbera kommen von hier. Und auch am Trüffel Mekka Alba kommen wir vorbei. „Wann sind wir denn da?“, fragt Karen etwas ungeduldig. Und weil wir normalerweise mit unseren Kindern reisen, antworte ich das Gleiche wie immer: „Bald“, ohne eine blassen Schimmer zu haben.
Das Navi verschiebt unsere Ankunftszeit mit jeder Ortsdurchfahrt weiter nach hinten. Wir haben beide einen Bärenhunger, aber sehen in Anbetracht der fortschreitenden Zeit unser Abendessen dahinschwinden. Je weiter wir in die Berge hineinfahren, desto weniger ist los. Kaum noch ein Supermarkt, keine Menschen, ab und zu mal eine Bar. Das war’s. Die extreme Abwanderung der Bevölkerung schreitet in dieser Gegend immer noch voran. Mehr und mehr verfallen die alten Dorfstrukturen und damit auch die spannende Geschichte der Region. Die Menschen ziehen in die Industriestädte Turin oder Cuneo, um einen guten Job zu ergattern.
Wir halten kurz an, kaufen in einem kleinen Dorfladen eine Landkarte. Schon eine ganze Zeit fahren wir durchs Valle Maira, benannt nach dem gleichnamigen Fluss im Talboden, der Richtung Osten in den Po fließt. Sind wir überhaupt noch richtig? Wir rufen bei unserem Kontakt Peter Vogt an: „Ja,“ sagt er, „ihr seid richtig, in 20 Minuten seid ihr da!“ Wir fahren talaufwärts Richtung Westen. Wenn wir hier immer weiterfahren und in keines der zahlreichen Seitentäler abbiegen würden, kämen wir nach Frankreich.
In Ponte Marmora biegen wir links ab und fahren bergauf. Als wir an dem kleinen Weiler ankommen, bestehend aus ein paar ineinander verschachtelten grauen Steinhäusern, geht die Sonne grad hinter den umliegenden, mächtigen Berggipfeln unter. Ein älterer, grauhaariger Herr in Hemd und Pullover steht freundlich lächelnd auf der Straße und empfängt uns auf Schweizer Deutsch: „Hallo ich bin Peter, wie war eure Fahrt?“ Wir sagen „lang“ und erzählen ihm gleich von unserem Plan, die Trails hier in der Region zu erkunden. Er ist hellauf begeistert und freut sich uns sein neues Zuhause zu zeigen. Wir laufen ins „Dorf“ hinein und stehen auf einer winzigen Piazza. Überall stehen Stühle und Bänke herum und laden zum Sitzenbleiben ein. Die Fensterläden und Hauswände sind liebevoll mit alten Landwirtschaftsgeräten und Blumen geschmückt, ein warmer Ort, der uns willkommen heißt. Das spüren wir und gehen in die Bar.
„Manche behaupten sie wären Mountainbiker, dabei fahren sie nur auf der Straße,“ sagt Peter und lacht dabei. Der 78-Jährige zeigt uns seine Bike-Karte und schwärmt von den Singletrails der Region. Vor rund 15 Jahren kam er in diese entlegene Gegend Italiens, die noch heute von Abwanderung geprägt ist. Viele der Weiler sind verlassen. Die Menschen sind die Städte gezogen, in der Hoffnung auf mehr Arbeit und ein besseres Leben. Zurückgelassen habe sie ein wahres Outdoor-Paradies. Und Peter ist geblieben, erst eine Woche, dann hat er auf sechs Wochen verlängert, jetzt ist er immer noch im Valle Maira. Mittlerweile ist er pensioniert und hat hier im Agriturismo Ceaglio ein festes Zimmer.
Fulvia lacht. Sie ist die Chefin hier. Ihre zwei Söhne Massimo und Fabrizio helfen im Betrieb und ihr Mann Alberto kocht. Ein ganzes Dorf haben sie umfunktioniert in ein Hotel, inklusive Sauna und Bikeraum. Als Skitouren Lodge haben sie sich schon einen Namen gemacht, jetzt kommt langsam das Bikethema ins Rollen. Peter hilft dabei. Er übersetzt, recherchiert, schreibt Artikel und kümmert sich um die Website. Trails zum Fahren gäbe es zu Genüge und Gänge beim Abendessen auch, acht waren unser Rekord. Dazu wählt man am besten eine der vielen, im Restaurant ausgestellten Magnumflaschen mit hervorragendem Piemonteser Wein.
Will man von Marmora auf die Gardetta Hochebene hat man gut 1.200 Höhenmeter auf der Uhr, ähnlich wie Marco Pantani der hier 1999 beim Giro d’Italia als Erster oben ankam. Ihm zu Ehren ist am Pass auf 2.300 Metern ein Denkmal errichtet. Der Asphalt ist gut, er wurde damals für den Giro extra erneuert. Aber da oben geht es für Menschen mit Mountainbikes erst richtig los, denn um höhere Gipfel und gute Trails zu erwischen, muss man ab hier nochmals viel Schweiß investieren.
Das Valle Maira ist Teil der Region Piemont und gehört zur Provinz Cuneo. In den zehn Gemeinden leben knapp 1.000 Menschen auf 450 Quadratkilometern. Es gehört auch zu den okzitanischen Tälern, die sich durch eine eigene Sprache, Architektur, Küche und Musik hervorheben. Okzitanisch ist eine galloromanische Sprache, die kaum einer mehr spricht. Wenn unsere Gastgeberin Fulvia sich in diesen Dialekt mit ihrer Mutter unterhält, hört es sich plötzlich an wie an der katalanischen Küste. Die Worte klingen abgehackt und man hört viel X und SCH heraus, ein wenig französisch, italienisch nicht wirklich. Der Dialekt ist etwas ganz Eigenes, verwandt mit ladinisch, rätoromanisch und eben katalan. Egal, wir verstehen worauf es ankommt: Trails, Landschaft, Leute und gutes Essen.
Am nächsten Morgen brechen wir früh auf. Unser Plan ist den Sonnenaufgang auf dem Col de Esischie mitzuerleben und dann die Tour um den Monte Tibert zu fahren. Über 2.000 Höhenmeter Trailabfahrt wurden uns von Peter angekündigt. Am Pass angekommen treffen wir auf einen Jäger mit Hund, kurz tauschen wir uns aus. Respekt für die schönen Bikes, Respekt für das schöne Gewehr. Ein Erinnerungsfoto für die Frau daheim wird mit dem Handy gemacht, dann klettert langsam die Sonne am Horizont empor und verwandelt die karge Landschaft in ein gold-orangenes Farbenmeer. Die Berge in der Ferne staffieren sich auf, sogar das Mittelmeer ist ganz weit im Süden zu sehen. Ein paar Wolken sorgen für diese spezielle Stimmung, die es nur ganz frühmorgens oder spät am Abend gibt. Wir machen ein paar Bilder verabschieden uns Richtung Gipfel. Der Rocca Negra liegt auf etwa 2.500 Metern. Ein paar Meter müssen wir tragen, dann erreichen wir einen grandiosen Trail, der auf dem Bergrücken verläuft. Diesem folgen wir bergauf und bergab immer entlang der Höhenlinie, bis wir am Abzweig zum Monte Tibert stehen. Meine Gedanken schweifen ab, diese unendliche Weite ist man von den Nordalpen nicht gewohnt. Flowige Trails in dieser Höhe mit einem endlosen Panorama machen das Bikeerlebnis hier speziell. Von hier oben hat man auch einen prächtigen Blick zum höchsten Berg der cottischen Alpen, dem 3.841 Meter hohen Monte Viso.
Wir genießen den Moment, die Sonne wärmt auf der Haut, dann entscheiden wir uns für den Singletrail um den Monte Tibert herum. Nein, wir gehen nicht auf den Gipfel, denn es liegen noch einige Trailmeter vor uns. Und als wir die Tibert-Umlaufbahn verlassen, wird es auch gleich verblockt – lose Steine und Geröll fordern unsere volle Aufmerksamkeit. An einer verfallenen Alm mit Steindach müssen wir einen kurzen Gegenanstieg auf der Schotterstrasse in Kauf nehmen, um dann wieder in den Singletrail einzutauchen. Die Routenfindung funktioniert mit Mobiltelefon und GPS-Track sehr gut. Zum Glück, denn die Beschilderung ist recht bescheiden. Aber wir sind dank Peter gut vorbereitet. Vorsorglich hat er uns mit den entsprechenden Tracks versorgt, er ist ja Rentner und hat Zeit. „Im Wald wird’s besser,“ sage ich zu Karen, und richtig, die Orientierung wird leichter und die Qualität des Untergrunds wechselt von ruppig auf flowig mit Nadelboden. Ein Trailtraum! Wir schießen freudig durch den Lerchenwald und lassen uns nicht zweimal bitten, als wir im Weiler Celle Marca auf ein geöffnetes Cafe stoßen. Nach soviel Berg und so wenig Zivilisation ist es quasi ein Muss hier einzukehren und hausgemachten Kuchen und Cappuccino zu bestellen.
Nach der Pause schließt sich noch ein waldiges Trailstück bis ins Tal an. Eine Kurve jagt die Nächste bis wir ganz unten am Fluss sind. Wir müssen ein kurzes Stück hochtreten bis nach Stroppo, wo uns Massimo, der Sohn von Fulvia mit dem Pickup erwartet. Wir klatschen ab und berichten ihm von unserem Erlebnis. Er freut sich, dass uns die Tour gefallen hat und hebt unsere Bikes auf die Ladefläche. Massimo ist Skitourengeher, Biken hat er gerade erst angefangen. Aber seinen Sportwagen hat er gegen den Pickup eingetauscht, damit er auch mal müde Bike-Touristen abholen kann. Fazit für den ersten Tag: Landschaftlich spannende Tour mit großartigem Panorama, langen, flowigen Trail-Passagen auf einem Grat entlang und über 2.000 Höhenmetern bergab. Super, so kann es weitergehen.
Heute stehe die Elva Trails auf unserem Plan. Sie liegen auf der anderen Talseite von Marmora, unserem Ausgangspunkt. Peter schlug vor die „Strada Napoleonica“ noch mitzunehmen, ein flowiger Waldtrail, der kurz oberhalb der Unterkunft startet. Nach 300 Höhenmetern auf Asphalt zweigt der Trail an einem kleinen Bauernhof nach links ab. Nach einem kurzen Ratsch mit Paulo, einem lokalen Milchbauern, machen wir uns lieber wieder auf den Weg. Denn als er mir anbietet, ich könne ihm helfen die Kühe mit der Hand zu melken, sehe ich unsere Abfahrt in Gefahr. Schon fliegen wir wieder durch den Wald und freuen uns über diesen tollen Trailfund. Im Fahrfluss denke ich über die Menschen hier nach: Wer hat diese Wege gebaut? Wurden sie nur von den Bauern benutzt? Warum sind die Leute hier so wahnsinnig nett? Sie haben nicht viel, aber sind sehr aufgeschlossen, wenn man sich für ihre Region und ihre Art zu leben interessiert. Bei uns ist das Leben immer so schnell, alles geht wie im Flug vorbei, immer weiter und höher und mehr...
Leider fliegt auch dieser Trail viel zu schnell an uns vorbei. Und jetzt müssen wir dafür bezahlen, denn der Anstieg auf der Straße nach Elva ist zwar nicht sehr steil, aber dafür lang. Spektakulär schlängelt sich die kleine Strasse in einer Schlucht hinauf nach Elva und führt dabei durch einige dunkle Galerien und Tunnel. Offiziell wird die Straße nicht mehr gesichert – dafür ist kein Geld da. Sie ist deshalb eigentlich für den Autoverkehr geschlossen. Für die Locals ist sie aber die einzige Verbindung zur Außenwelt, deshalb befahren sie sie trotzdem. Knapp 800 Höhenmeter später bekomme ich einen Hungerast, der sich gewaschen hat. Wir haben Glück und finden in Elva direkt neben der Kathedrale, die zum Weltkulturerbe gehört, ein kleines okzitanisches Restaurant und können uns stärken. Das war gut, denn von hier sind es noch mal 300 Höhenmeter bis zum Col Giovanni auf 1.850 Meter und somit zum eigentlichen Einstieg in die Abfahrt. Oben angekommen machen wir ein kurze Pause und genießen die Aussicht. Von hier kann man die Weite des Tales noch einmal sehen. Der Trail startet sanft und kreuzt immer wieder die kleine Asphaltstraße, bis wir endgültig im Wald verschwinden. Immer wieder wechseln sich technische-steinige Passagen mit Waldboden ab. Eine perfekte Mischung führt uns über die kleinen Weiler Conta und Ciamino bis hinab nach Stroppo im Talboden. Halt Stop, nicht ganz bis zum Talboden. Dieses kleine Örtchen liegt etwas oberhalb, auch von dort gibt es noch einen Trail bis ganz hinunter. Das Terrain ist auf dieser Talseite etwas rauher und die Trails haben mit den gepflasterten runden Steinen einen anderen Charakter. Das obligatorische After Ride Bier ist Pflicht, bevor es zurück nach Marmora geht. Der letzte Anstieg zur Unterkunft wird nochmal hart, aber ich träume schon vom Abendessen, wie viele Gänge es heute wohl geben wird? Mein Bike hat zwölf ...
Monte Tibert – Strada Napoleonica – Elva Trails
Das Agriturismo Ceaglio von Fulvia, ihrem Mann Alberto und ihren Söhnen Massimo und Fabrizio könnt ihr euch hier genauer anschauen.
Karten der Region findet ihr hier. Und noch mehr Infos zum Bikegebiet und den Touren gibt es hier oder hier.
Wer den Trip ins Valle Maira organisiert unternehmen will, kann das mit Holger Meyer und seinen Rasenmähern.